Hermeneutik des Bruchs
Plausibel wird diese Gegenbewegung gegen Papst und Konzil jedoch aus der stürmischen Entwicklung der vorangegangenen Jahre ...
Kritik
Schärfste Kritik am II. Vatikanischen Konzil kommt insbesondere von Traditionalisten wie z. B. Marcel Lefebvre ...
Verbindlichkeit
Die vier Konstitutionen des Konzils sind verbindliche Lehre der Kirche, nehmen jedoch für sich keine Unfehlbarkeit in Anspruch ...
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Das Zweite Vatikanische Konzil
Diagnose von 1972
Der für die Durchführung und Vollendung des letzten Konzils verantwortliche Papst Paul VI. zeigte sich im Jahr 1972 mehrfach irritiert darüber, dass statt der erhofften Belebung und dem geistlichen Wachstum, das vom II. Vatikanum ausweislich sämtlicher Dokumente bezweckt war, das Gegenteil einzutreten schien. Häufig zitiert wird eine Äußerung dieses Papstes vom 29. Juni 1972. Zu Beginn seines zehnten Pontifikatsjahrs hatte der Papst eine Predigt in freier Rede gehalten. Er brachte seine Enttäuschung über die Nachkonzilszeit unerwartet offen zum Ausdruck. Nach einem Bericht von Erzbischof Agostino Casaroli, späterer Kardinalstaatssekretär, hatte der Papst auch von seinem Eindruck gesprochen, als ob durch irgendeinen Spalt der Rauch Satans in den Tempel Gottes eingedrungen sei, um die Früchte des Konzils zu verderben.
Gemeint war damit, nach Überzeugung von Philippe Levillain, im Dictionnaire historique de la papauté zu Paul VI., insbesondere das Problem um die Traditionalistenbewegung von Marcel Lefebvre (gegr. 1970). Demnach stellte der Widerstand gegen das Konzil (vgl. Religionsfreiheit) und die Liturgiereform seitens des Traditionalismus für den Papst damals eine Bewährungsprobe dar, die er persönlich zumindest so bedrängend empfand, wie den Protest gegen seine letzte Enzyklika Humanae vitae. Denn während alle alten und modernen Häresien schon einmal Konjunktur hatten, wieder stärker oder schwächer werden, begriff Papst Paul VI. den sich dort abzeichnenden Traditionsbegriff als gefährlich. Diese lehren einen vermeintlich zwingenden Gehorsam gegenüber dem „traditionellen“ Papsttum (d. h. so wie sie es subjektiv auffassen), der sich im Widerstand gegen den amtierenden Papst zu beweisen habe. Trotz heftiger Aktivität, insbesondere seit einer Grundsatzerklärung Marcel Lefebvres vom 21. Nov. 1974, konnte der Traditionalismus aber nur eine geringe Reichweite unter den Katholiken erreichen; die Zahl der auf diese Interpretation der Tradition fixierten Anhänger dürfte weltweit deutlich unter 100.000 Personen liegen. Jedoch gibt es wesentlich mehr Freunde der „alten Liturgie“, die aber die Ansichten des Erzbischofs Lefebvre nicht billigen.
Hermeneutik des Bruchs
Plausibel wird diese Gegenbewegung gegen Papst und Konzil jedoch aus der stürmischen Entwicklung der vorangegangenen Jahre. In der Interpretation der Konzilsbeschlüsse, insbesondere in Nord- und Westeuropa und Nordamerika, gewann bisweilen eine Deutung das Übergewicht, die das Konzil als Abkehr von der Tradition und Bestätigung einer neuen Auffassung von der Kirche sah. Diese Deutung konnte von traditioneller Seite als Wiederbelebung des Modernismus aufgefasst werden, wenngleich diese Deutung, anders als der Modernismus (und der Integralismus) das sakramental verfasste kirchliche Amt (vgl. Hierarchie) nie vollends in Abrede stellte.
Es wird angenommen, die nachkonziliare Krise beruhe zum Teil darauf, dass trotz notwendiger und erfolgreicher Verurteilung modernistischer Lehren seit Pius X. (bestätigt durch sämtliche Nachfolger, implizit z.B. auch in Deus caritas est, insb. Nr. 12-15, 37-39), die bloße Lehrverurteilung schon um 1907 (vgl. Enzyklika Pascendi) als Methode nicht mehr ausreichte, um das Weiterwirken von mit Irrtum behafteten Auffassungen inmitten der Kirche zu verhindern. Nicht nur in Teilströmungen der so gen. Nouvelle théologie der 1940er Jahre (vgl. Enz. Humani generis, 1950), auch in dem als Holländischer Katechismus von 1966 bekannt gewordenen Werk wurden diese älteren Tendenzen, die jedenfalls bis zu Reimarus († 1768) zurückreichen, partiell von neuem spürbar.
Sofern der Kampf gegen die Liturgiereform („neue Messe“) ein Instrument war, um die (ursprünglich seitens des sog. Neo-Modernismus inszenierte) Hermeneutik des Bruchs nun auch seitens des Traditionalismus zu untermauern, hat Papst Benedikt XVI. mit dem Motu Proprio Summorum Pontificum von 2007 (Freigabe der „alten Messe“) die Perspektive der Kontinuität gestärkt, was jedenfalls der Autorität des Konzils zugute kommt.
Manche Theologen erwägen heute, ob etwa die nachkonziliare Krise des 20. Jahrhunderts zugleich den Abschluss der Krisenerscheinungen nach dem I. Vatikanum markiert. Denn der vorzeitig erzwungene Abbruch und evtl. eine unzureichende Vermittlung der Ergebnisse von 1870, haben die Deutung des II. Vatikanums als Distanzierung vom I. Vatikanum möglich gemacht. Wahrscheinlich können beide vatikanischen Konzilien letztlich nur in einer gemeinsamen Perspektive erfolgversprechende Akzeptanz erzielen.
Die nachkonziliare Krise ist auch nicht unabhängig von der Krise jedweder Autorität seit 1914 zu bewerten. Vermutlich ist die Reichweite der Krise voll identisch gewesen mit dem Zusammenbruch überlieferter Autoritäten (Monarchie, ländliche Großfamilie, traditioneller Sozialkonsens in der Moral), welche die religiöse Praxis, vor allem in der europäischen Zivilisation, zuvor noch stützten. Überwunden wird die Krise, falls diese Hypothese zutrifft, dann genau in dem Maße, wie die Legitimität eines geistlichen Autoritätsbegriffs die freiwillige Zustimmung (innerhalb der Pluralität der modernen Gesellschaft) gewinnt.
Nicht zur nachkonziliaren Krise im eigentlichen Sinne gehören nur-theologische Probleme, etwa in der Christologie, da diese während der ganzen Geschichte der Kirche unvermeidlich sind.
Kritik
Schärfste Kritik am II. Vatikanischen Konzil kommt insbesondere von Traditionalisten wie z. B. Marcel Lefebvre (oder, weniger prominent Hans Milch und Heinz-Lothar Barth), die das Konzil für eine Abwendung vieler Menschen vom Glauben verantwortlich machen. Der Integralismus akzeptiert überdies die unzweideutige Loslösung der kirchlichen Identität von bestimmten gesellschaftspolitischen Vorstellungen nicht.
Auch fortschrittlich orientierte Religionskritiker kritisieren das Konzil, aber als zweifelhaften Versuch der katholischen Kirche, sich nur äußerlich einen modernen Anstrich zu geben, während es im Prinzip das katholische Dogma intransigent verteidigt habe. 1981 legte der Psychoanalytiker und Soziologe Alfred Lorenzer eine umfassende Kritik der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils vor. Lorenzer warnt darin „vor den verhängnisvollen Auswirkungen der Liturgiereform, die die Gläubigen der subjektvernichtenden Tendenz des "Zeitgeistes" ausliefert“.
Die interne Kritik bezieht sich entweder auf die nur schleppende oder zu forsche Umsetzung der Beschlüsse oder auf die Forderung nach einem neuen Konzil, da das II. Vatikanum bereits überholt sei. Die liberale Kritik sieht im Konzil nur einen ersten Anfang und zielt, darin in Harmonie mit dem Modernismus zu Beginn des 20. Jh., auf die Ersetzung des kirchlichen Amtes durch einen theologisch-wissenschaftlichen Führungsanspruch, ohne zu problematisieren, dass dieser im Volk nicht vermittelbar ist. Das Prinzip des Katholizismus, die Fragen der Religion mit einem (amtlich strukturierten) geistlichen Vorrang vor Staatspolitik und Gesellschaftsleben auszustatten, sieht diese Kritik (vgl. Laizismus) als obsolet an.
Wenig beleuchtet wurde bislang das Problem, dass die intensive innerkirchliche Rechtsetzungstätigkeit seit 1965, römischen und noch mehr regionalen Ursprungs, obwohl oft im Namen einer Aufwertung der Laien vollzogen, die Folgebereitschaft der gewöhnlichen Christen oft stark strapaziert hat. Die geistliche Autorität des Klerus überzeugt aber am ehesten dort, wo sie zur Selbstbeschränkung auf ihre „Kernkompetenz“ fähig ist. Dies ist möglicherweise in der typischen Pfarrei weniger geglückt als in neuen geistlichen Bewegungen (vgl. Movimenti).
Verbindlichkeit
Die vier Konstitutionen des Konzils sind verbindliche Lehre der Kirche, nehmen jedoch für sich keine Unfehlbarkeit in Anspruch, da das Konzil nicht dogmatisch, sondern pastoral lehren wollte. Die übrigen Dokumente sind nicht als Konstitutionen verfasst und stehen im Rang unter diesen. Zweifel an der Verbindlichkeit des Konzils kamen in der Rezeptionsphase aufgrund der von der Tradition abweichenden pastoralen Lehrweise immer wieder auf. Das Konzil selbst jedoch gibt (in der nota praevia zu Lumen Gentium und in der Fußnote zu Gaudium et Spes) Richtlinien zur Rezeption vor. Zudem kann auf eine Erklärung des Generalsekretärs des Konzils Pericle Felici in der 123. Generalkongregation am 16. November 1964 verwiesen werden, worin es heißt: „Unter Berücksichtigung des konziliaren Verfahrens und der pastoralen Zielsetzung des gegenwärtigen Konzils definiert das Konzil nur das als für die Kirche verbindliche Glaubens- und Sittenlehre, was es selbst deutlich als solche erklärt. Was aber das Konzil sonst vorlegt, müssen alle und jeder der Christgläubigen als Lehre des obersten kirchlichen Lehramtes annehmen und festhalten entsprechend der Absicht der Heiligen Synode selbst, wie sie nach den Grundsätzen der theologischen Interpretation aus dem behandelten Gegenstand oder aus der Aussageweise sich ergibt“.