Tugend
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1606-1612


I. Die Bestimmung, zu der Gott den Menschen beruft, fordert von diesem nicht nur gelegentl. Handeln gemäß dieser Bestimmung, sondern die Durchformung seines ganzen Lebens auf sie hin. Darin besteht ja des Menschen umfassende sittl. Aufgabe.


1. Der sittl. durchgeformte Mensch wird als tugendhaft, seine Haltung, das Durchgeformtsein gemäß seinem Sollen (gefestigte Neigung zum guten Verhalten u. Fertigkeit darin) als T. bezeichnet (vgl. Thomas v. A., S.Th. 1,2 q.55 a.3).

Wenn der Ausdruck T. gegenüber früheren Zeiten an Klang verloren hat, bleibt doch die damit gemeinte Sache immer für den Wert des Menschen von höchster Bedeutung (T. von taugen; virtus von vir = Mann, also die Beschaffenheit des rechten Mannes).

Da sich das, was für den Menschen gut ist, von dem Sollen her bestimmt, das ihm aufgetragen ist, kann man sagen, daß die T. die Mitte hält ("in medio virtus"; vgl. Aristoteles, Nik. Eth. II 6,1107 a): Sie ist darauf aus, das sittl. Verhalten entsprechend den erkannten sittl. Forderungen zu gestalten u. so das Gleichgewicht zw. beiden herzustellen (vgl. Augustinus, De quantitate animae 16,27; PL 32,1051; Thomas v. A., S.Th. 1,2 q.64 a.1: Angleichung an das Vernunftmaß). "Habt also acht, so zu tun, wie Jahwe, euer Gott, euch geboten, ohne davon nach rechts od. links abzuweichen" (Dtn 5,32; vgl. Spr 4,26 f).

Das, was geschehen soll, kann manchmal eine hohe Leistung sein. Es wäre daher ein grobes Mißverständnis, würde man die T.mitte im Sinn von Mittelmäßigkeit (mediocritas) deuten. - Auf einzelnen, nicht auf allen Gebieten, liegt die T. in der Einhaltung der ausgewogenen Mitte zw. Zuviel u. Zuwenig (Sachmitte, medium rei, etwa im Erwerb von Eigentum; vgl. Gregor v. Nyssa, Hom. 8 in Cant., PG 44,946; Hieronymus, Ep. 108,20; Bernhard v. Clairvaux, De consid. I 8,11; PL 22,898; 182,738).


2. Dem Ursprung u. der Beschaffenheit nach unterscheidet man natürl. u. übernatürl. T.en.


a) Zur sittl. Durchformung trägt das wiederholte Tun des Guten entscheidend bei. T.en sind gute Gewohnheiten. Als solche binden sie in gewissem Grad den Menschen an das Tun, machen ihn darin zuverlässig, setzen ihn freil. auch einer gewissen Gefahr der Mechanisierung u. der Entsittlichung aus. Dieser Gefahr muß er durch entsprechendes Bemühen, den T.en ihren Charakter freier Entschiedenheit zu wahren, begegnen.

Die durch Übung erworbene T. (virtus acquisita) muß man natürl. T. nennen, falls dabei nur natürl. Kräfte des Menschen am Werk sind. Die Kirche hat sich gegen die pessimistische Auffassung gewandt, der Mensch könne unter dem Einfluß der Erbsünde nur sündigen u. von Natur aus nichts Gutes tun, da sie den Satz ablehnte, alle Werke der Ungläubigen (Ungetauften) seien Sünde, und die (anscheinenden) T.en der (bloß natürl. Einsichten folgenden) Philosophen seien in Wirklichkeit Laster (D 1925). Zweifellos würden gute Werke u. T.en, die aus rein natürl. Können entspringen, nicht dazu ausreichen, den Menschen seiner übernatürl. Bestimmung entgegenzuführen; Augustinus würde solche T.en gar nicht wahre T.en nennen (vgl. Contra Iul. II 19; PL 44,686; Thomas v. A., S.Th. 1,2 q.65 a.2). Man kann aber fragen, ob der Mensch jemals mit bloß natürl. Kräften Gutes tut u. gute Haltungen erwirbt od. ob nicht dabei immer die Gnade mitwirkt; wenn das zweite zutrifft, hat das Reden von natürl. T.en denselben Sinn wie das Reden von der Natura pura u. den aus ihr entspringenden sittl. Forderungen, näml. die Verdeutlichung der Wahrheit, daß der Mensch durch kein eigenes Tun einen eigentl. Anspruch auf die Erreichung seiner letzten Bestimmung erwerben, sondern nur gnadenhaft dorthin geführt werden kann.


b) Jedenfalls haben für die Vollendung des Menschen auf seine Bestimmung hin, wie sie die Offenbarung aufzeigt, nur jene T.en Bedeutung, die in der Gnade wurzeln u. die der Mensch aus deren Kraft entfalten kann u. zu entfalten hat (die Auffassung, die christl. Vollkommenheit bestehe in Passivität u. habe mit T.übung nichts zu tun, wurde von der Kirche abgelehnt; D 896), also die übernatürl. T.en, die im Gnadenleben ihren Mutterboden haben u. mit diesem dem Menschen geschenkt od. eingegossen werden (virtutes infusae; vgl. Thomas v. A., S.Th. 1,2 q.62 a.1; q.65 a.2; Augustinus, De civ. D. XXI 16; PL 41,730, stellt im besonderen die Liebe als von Gott durch den Mittler Jesus Christus frei gewährtes Geschenk heraus). Daß der Mensch in Ausrichtung auf sein Verhalten in dieser Weise bei der Rechtfertigung von Gott ergriffen wird, hat das kirchl. Lehramt bes. in bezug auf Glauben, Hoffnung u. Liebe aufgezeigt (D 780 904 1530 1561 3008 3015). Aus der Voraussetzung, daß Gott das gesamte Sein u. Tun des Menschen dem letzten Ziel zuführen will, ergibt sich, daß er diesen zu einem umfassenden T.handeln befähigen muß (vgl. Thomas v. A., S.Th. 1,2 q.63 a.3 ad 2): der Catechismus Romanus spricht daher "vom glänzendsten Gefolge aller T.en, welche mit der Gnade von Gott der Seele eingegossen werden" (II 2,39).


II. Wenn die sittl. Grundaufgabe des Menschen in der Verwirklichung der Liebe besteht, gibt es nur eine Grund-T., eben die Liebe. Mit gewissem Recht bezeichnet Augustinus im Anschluß an die Hl. Schrift (Mt 22,40; Röm 13,8-10; Gal 5,14) die Liebe als einzige T.: "Wenn uns aber die T. zum seligen Leben führt, möchte ich behaupten, daß überhaupt nichts außer der höchsten Gottesliebe T. ist" (De mor. eccl. cath. I 15,25; PL 32,1322).


1. Dennoch kann man begründetermaßen von verschiedenen T.en sprechen, da die Liebe vom Menschen in verschiedenen Bereichen zu üben ist. Man kann sich an verschiedene Unterscheidungsgründe halten, so a) an den Ursprung der T.en (erworbene u. eingegossene T.en, I 2), b) an die Seelenfähigkeiten, in denen sie ihren Sitz haben (Subjekt; Verstandes- u. Willens-T.en) c) an den Gegenstand (Objekt), wobei zw. dem Gegenstand selbst (Materialobjekt) u. dem angewandten Gesichtspunkt (Formalobjekt) unterschieden wird.

Unter Beachtung der Gegenstandsbereiche spricht man von göttl. u. von sittl. T.en.


2. Als göttl. T.en (virtutes theologicae) werden jene bezeichnet, die sich unmittelbar auf Gott erstrecken (ihn zum Material- u. Formalobjekt haben; vgl. Thomas v. A., S.Th. 1,2 q.62 a.1), näml Glaube, Hoffnung u. Liebe: Durch den Glauben nehmen wir Gott als unsere letzte Bestimmung an, durch die Hoffnung werden wir zu ihm hingezogen, durch die Liebe vereinigen wir uns mit ihm. Diese drei Grundhaltungen des christl. Lebens werden von der Hl. Schrift nicht nur jede für sich aufgezeigt, sondern auch miteinander genannt: "Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei" (1 Kor 13,13). Die christl. Tradition hebt ihre überragende Bedeutung hervor: "Der hat noch nicht die zum Schauen des Ewigen passende Schärfe des geistigen Auges, der nur dem Sichtbaren, d.h. dem Zeitlichen, glaubt; er kann sie jedoch erwerben, wenn er den göttl. Bildner aller sinnl. wahrnehmbaren Dinge anerkannt, ihn im Glauben erfaßt, seiner voll Hoffnung harrt u. ihn liebend sucht" (Augustinus, De vera religione 54,106; vgl. Ench. 7; Ps 31 en. 5; PL 34,169; 40,234; 36,260; Polykarp v. Smyrna, Phil. 3,2 f).

Da die göttl. T.en die Gott-Teilhabe des Menschen in den Anfängen verwirklichen u. zu ihrer Vollendung führen, können sie nur aus der Gnade erwachsen. Nach der Lehre des Konz. v. Trient werden sie als Ansätze mit dem Gnadenleben gegeben (D 1530 1561).


3. Jene T.en, die sich unmittelbar auf Geschöpfliches (u. durch dessen Vermittlung auf Gott) beziehen, werden herkömml. als sittl. T.en (virtutes morales) bezeichnet. Der Ausdruck stammt von Aristoteles (Nik Eth. I 13,1103 a), der allerdings in der Unterscheidung nach den tragenden Seelenfähigkeiten (Subjekten) den sittl. od. Willens-T.en die Verstandes-T.en gegenüberstellte. Thomas v. A. schreibt nur den Willens-T.en vollen T.charakter zu (S.Th. 1,2 q.57 a.1). Mit der Zeit hat man die Verstandes-T.en (außer der Klugheit) kaum mehr beachtet u. sich nur mit den Willens-T.en beschäftigt. Außerdem hat man die Wendung zum Objekt vollzogen u. die sittl. T.en als jene, die unmittelbar Geschöpfliches im Auge haben, den göttl. T.en, die sich unmittelbar auf Gott beziehen, gegenübergestellt.

Die sittl. T.en können natürl. od. übernatürl. Ursprungs sein (I 2). Ihre Zahl läßt sich kaum abgrenzen: Sie sind so vielfältig wie die Entfaltungsmöglichkeiten des menschl. Seins. Augustinus neigt dazu, die Liebe allein als T. gelten zu lassen, u. spricht doch von einem Heer von T.en, die dem uns einwohnenden Christus dienen (In 1 Io tr. 8,1; PL 35,2035).

Schon in der vorchristl. Zeit wurden vier wichtige sittl. T.en zus. genannt, um die sich das ganze sittl. Leben wie um Türangeln (lat. cardines) dreht, die Kardinal-T.en Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit u. Mäßigung. Platon, Aristoteles, Zenon v. Kition (Begründer der Stoa) befassen sich mit ihnen. Cicero bezeichnet sie als Teile des rechten sittl. Verhaltens (De invent. II 53). Über die alexandrinische u. die philonische Rel.s-Philosophie kommen sie in die T.lehre der Kirchenväter. Diese werden außerdem durch das Buch der Weisheit (8,7) auf sie hingewiesen. Ambrosius gibt ihnen den Namen Kardinal-T.en (Expos. ev. sec. Luc. V 62; PL 15,1738) u. leitet aus ihnen die verschiedenen Pflichtenkreise ab (De off. I 25,116.119; PL 16,57.58); auch Augustinus (De div. qq. 31; De Gen. contra Man. II 13.14; De lib. arb. I 13; In Ps 83 en. 11; PL 40,20 f; 34,203 f; 32,1235 f; 37,1065), Gregor d. Gr. (Mor. XXII 1,2; II 49,76.77; PL 76,211 f; 75,592 f). Bernhard v. Clairvaux (De conv. ad clericos 10,21; De consid. I 8,9; De div. serm. 72,2; In Cant. serm. 22,10; PL 182,845.737; 183,693.883) befassen sich mit ihnen. Thomas v. A. teilt nach den drei göttl. u. den vier Kardinal-T.en die spezielle Moraltheologie ein (vgl. S.Th. 1,2 q.6 a.13). Es ist aber kaum mögl., alle anderen sittl. T.en den Kardinal-T.en unterzuordnen. Die Kardinal-T.en werden übrigens verschieden gedeutet (vgl. Thomas v. A., S.Th. 1,2 q.61 aa.1.2; F. de Suàrez, De virtutibus in gen., disp. III secr. 5 n.1): a) als Gattungen, denen verschiedene Arten (partes subiectivae) unterstehen (die Tauschgerechtigkeit als Art der Gerechtigkeit), b) als charakteristische T.en, denen sich ähnliche (partes potentiales) anschließen (die Wahrhaftigkeit der Gerechtigkeit ähnl.), c) als notwendige Eigenschaften, die jeder anderen T. anhaften müssen (die Klugheit als notwendige Eigenschaft jeder T.).


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