Offenbarung
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1969, Sp. 929-931


Wenn Gott sich dem Menschen offenbart, darf dieser an dieser Tatsache nicht vorübergehen. Er muß ja damit rechnen, daß er über seine eigene Bestimmung, die letztl. vom Schöpfergott abhängt, aus der O. Wesentliches erfährt. Wenn er nicht Gefahr laufen will, den Sinn seines Daseins zu verfehlen, darf er sich nicht mit den Erkenntnismöglichkeiten begnügen, die ihm v. Natur aus zur Verfügung stehen, sondern muß die O. Gottes hören. "Welcher Mensch vermag denn Gottes Willen zu erkennen od. wer kann erfassen, was der Herr verlangt? Die Gedanken der Sterblichen sind ja unsicher u. schwankend unsere Absichten" (Weish 9,13 f). Es kann sein, daß das, was Gott mit dem Menschen vorhat, über alle natürl. Möglichkeiten hinausgeht u. ihm nur durch göttl. O. bekannt wird. Daß es sich tatsächl. so verhält, versichert uns das Wort der O. selbst: "(Wir verkünden) wie geschrieben steht: Was kein Auge gesehen u. kein Ohr gehört hat u. was in keines Menschen Herz gedrungen ist, alles, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben. Denn uns hat es Gott geoffenbart durch den Geist" (1 Kor 2,9 f). Eben diese Absicht Gottes hat seine Offenbarung an den Menschen notwendig gemacht (D 3005 [1786]).

Zur Erreichung seines wirkl. Lebenszieles genügt es dem Menschen also nicht, eine bloß natürl. Anständigkeit, d.h. eine Sittlichkeit aus bloß natürl. Einsichten des Gewissens, zu pflegen (D 2903 f [1703 f]). Er muß vielmehr den Anruf, den Gott im Wort der O. an ihn richtet, im Glauben, der das ganze Leben durchformt, annehmen (vgl. 2. Vat. Konz., Dei verbum 2). Die O. selbst läßt keinen Zweifel darüber, daß es nur einen Weg gibt, auf dem der Mensch zum Heil (zur glückl. Erfüllung seines Daseins) gelangen kann, eben den v. ihr gezeigten Weg des Lebens der Liebe in Jesus Christus (Joh 8,12; 10,9.28; 14,6; 1 Tim 2,5). "Wer glaubt u. sich taufen läßt, wird gerettet werden, wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden" (Mk 16,16). Wenn auch das natürl. Gewissen mit seinen Einsichten allein dem Menschen nicht zu der ihm v. Gott tatsächl. zugedachten Persönlichkeitsverwirklichung verhelfen kann, bildet es doch einen wichtigen Ansatzpunkt für die Erfüllung der Absichten Gottes. Der gewissenhafte Mensch ist bereit, auf jegl. Anruf Gottes zu hören, ob er durch die natürl. Gegebenheiten od. durch die O. zu ihm dringt; gläubig nimmt er das als glaubwürdig erwiesene Wort der O. an; ehrl. müht er sich, das Ja des Glaubens in allen Lebensbereichen zu verwirklichen.

Die Moraltheologie hat zur Aufgabe, die v. der O. geforderte Sittlichkeit zu erforschen u. zu lehren. Sie schöpft aus der O., die in Schrift u. Tradition enthalten u. d. kirchl. Lehramt anvertraut ist, als ihrer wichtigsten Quelle und unterscheidet sich eben dadurch von der Moralphilosophie, die dem Sittlichen nur mit natürlichen Erkenntnismitteln nachgeht. Das Interesse der Moraltheologie gilt vorwiegend dem sittl. Gehalt der O. (dem geoffenbarten sittl. Gesetz), abgesehen v. einer etwaigen Uroffenbarung (deren Inhalt sich kaum eindeutig feststellen läßt) der O., die auf Christus vorbereitet, u. der Fülle der O. in Christus (vgl. 2. Vat. Konz., Dei verbum 2-4; Gaudium et spes 10 22 45).


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