Neigung
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral
LChM 1976, Sp. 1173 f
1. Der Mensch ist sittliches, d.h. sein Leben in verantwortl. freier Entscheidung selbst gestaltendes Wesen. Nun treten in ihm Strebungen (N.en, Abneigungen) auf, die zunächst nicht sittl. geordnet sind; ihnen gegenüber hat der Mensch die manchmal schwere Aufgabe, sie in eine von der Vernunft als richtig erkannte Ordnung zu bringen.
2. In den spontan auftretenden Strebungen kommen die wesentl. N.en der menschl. Natur (Thomas v. Aq., S.Th. 1,2 q.94 a.2: "inclinationes naturales") zum Vorschein, die zum Grundstreben der Natur nach ihrer Vollwirklichkeit (appetitus naturalis) gehören (vgl. Natürl. sittl. Gesetz). In der von der Erbsünde gezeichneten Verfaßtheit der Menschennatur zeigen sich diese Strebungen freil. nicht schon in harmonischer Zusammenordnung auf diese Vollwirklichkeit hin, sondern sind vom Menschen erst zu ordnen.
3. Für diesen besteht nun die Möglichkeit u. die Gefahr, die harmonische Einheit zu vernachlässigen u. einzelne N.en auf Kosten anderer Strebungen, die für die menschl. Vollwirklichkeit bedeutsam sind, groß werden zu lassen. Diese Gefahr ist bes. beim sinnl. Begehren da: Dieses kann sein Sonderinteresse ohne Rücksicht auf die von der Vernunft aufgezeigten gesamtmenschl. Interessen verfolgen. Für einzelne Menschen kann infolge ihrer individuellen Verfassung diese Gefahr größer sein als für andere. Die Sinnensphäre ist in ihrer Tätigkeit ja von körperl. Organen abhängig; so üben die körperl. Anlagen einen gewissen Einfluß aus. Nicht nur die Ererbung spielt dabei eine Rolle, sondern noch eine Reihe anderer Faktoren: Lebensweise, Beschäftigung, Ernährung, Klima, Jahreszeiten usw. Unverhältnismäßig starke Erregungen einzelner Leidenschaften können krankhafte Ursachen haben, die bei eigentl. Psychotikern bis zu Zwangshandlungen führen können.
4. Solche Gleichgewichtsstörungen im Triebgefüge drängen den Menschen in eine bestimmte Richtung u. machen es ihm schwer, zu einem ausgewogenen sittl. Verhalten zu kommen. Wenn er sich unter dem Drängen der N. sittl. unrichtig verhält, ist ihm dies weniger anzulasten als einem anderen, der nicht unter solcher N. leidet. Seine seelischen Betreuer müssen ihn selbstverständl. im Streben nach der rechten Ordnung unterstützen, da ein sittl. unrichtiges Verhalten immer ein Unglück für den Menschen ist. Krankhafte N.en können die Willentlichkeit u. damit die Anrechenbarkeit von Taten herabmindern od. ganz aufheben. In der Betreuung von Menschen mit derartigen N.en empfiehlt sich oft die Zusammenarbeit von Arzt u. Seelsorger.
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