Feindesliebe
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 460-462


1. Obwohl die Abneigung gegen den Feind, den Mitmenschen, von dem der Mensch gehaßt, beleidigt, geschädigt wird, als verständl. erscheint, macht das NT mit der Auffassung Ernst, daß jeder Mensch dem Menschen Nächster ist, u. fordert es auch F. (vgl. 2. Vat. Konz., GS 28).

Zu solchem Verständnis der Nächstenliebe scheint man außerh. des Offenbarungsbereiches kaum vorgedrungen zu sein. Selbst im AT, wo die Forderung der F. nicht unbekannt ist (Lev 19,18; Sir 25,21 f), wird sie vordringl. auf den Feind innerh. des eigenen Volkes bezogen (Lev 19,18).

Jesus verlangt eindeutig die F. über diesen Rahmen hinaus (Gleichnis vom barmherzigen Samariter, Lk 10,25-37): "Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ,Liebe deinen Nächsten' und hasse deinen Feind. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen" (Mt 5,43 f; vgl. Röm 12,14.17-21). Die versöhnl. Haltung gegenüber dem Feind ist Voraussetzung dafür, daß der Mensch bei Gott Vergebung findet: "Wenn ihr näml. den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird auch euch euer himmlischer Vater vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater euch eure Verfehlungen nicht vergeben" (Mt 6,14 f). Christl. F. findet ihre hervorragenden Vorbilder in Christus und den Heiligen (Lk 23,24; Apg 7,60; Röm 9,3) und ihre tiefste Bedeutung im Lieben Gottes ("... damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet, denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte ... Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist" - Mt 5,45.48).


2. Wenn jeder Mensch seinen Nächsten und damit auch seinen Feind lieben soll wie sich selbst, bedeutet dieses Wie, daß er bei aller verständl. Selbstbehauptung nicht aufhören darf, das Gute auch des Feindes, die Erhaltung und Erhöhung seines Wertes, zu wünschen. Ihn bloß nicht zu hassen genügt nicht; F. ist darüber hinaus Bejahung. Freil. stehen ihr beträchtl. psychische Schwierigkeiten entgegen. F. kann daher für gewöhnl. nur in allmähl. Wachstum verwirklicht werden (Richtungssittlichkeit). Als wichtige Aufbauelemente können Wahrung der Höflichkeit, Versöhnungsbereitschaft, ja Suchen der Versöhnung (vgl. Mt 5,23-25) angesehen werden. Eine sich entfaltende F. strebt danach, durch großmütige Güte das Böse im Feind zu überwinden (vgl. Mt 5,39-42; Röm 12,21).


Zurück zum Index