Epikie
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 358-362


Als E. (griech. Billigkeit) bezeichnet man das Verhalten eines Menschen, der erkennt, daß die Forderung eines Gesetzes den Gegebenheiten seiner Situation nicht entspricht, u. daher nicht das Gesetz befolgt, sondern sich entscheidet, das Situationsrichtige zu tun.


Die Erörterung der E. begann schon im Altertum. Nach Platon, der von der durch Gesetze geregelten politischen Gemeinschaft (Staat) große Stücke hielt, liegt die wahre Gerechtigkeit in der vollkommenen Befolgung der Gesetze durch alle; die E. sei eine Schwächung des Gesetzes, ein Zugeständnis an die Schwäche der Menschen, das nur als kleineres Übel geduldet werden könne (Leges VI 5,757 b). Aristoteles dagegen sieht in der E. eine Verbesserung des Gesetzes, insofern dieses infolge seiner allg. Fassung mangelhaft bleibt (Nik. Eth. V 14,1137 b); vom fehlerhaften Gesetz zu dem überzugehen, was von der Natur der Dinge gefordert wird, sei bessere Gerechtigkeit. Albert d. Gr. übernimmt die aristotel. Auffassung von der E. als besserer Gerechtigkeit (Eth. V, Op. omn. Parisiis 1894, VII 384 f; Polit. III, ebd. VIII 300; In Ev. Luc., ebd. XXII 80) u. will sie im Bereich des bürgerl. Gesetzes angewandt sehen, hält sie aber auch im Bereich des positiven göttl. Gesetzes für zulässig. Thomas v. Aq. nennt im Anschluß an Aristoteles die E. eine Tugend (S.Th. 2,2 q.120 aa.1.2), ist in ihrer Zulassung aber zurückhaltender als Albert: Sie sei anzuwenden, wenn man den Gesetzgeber (Herrscher) nicht befragen könne (1,2 q.96 a.6; q.97 a.4) u. dem Gemeinwohl (Gemeinschaft) aus der Beobachtung des Gesetzes offensichtl. ein schwerer Schaden drohe (1,2 q.96 a.6; 2,2 q.120 a.1), jedoch nicht in Zweifelsfällen (1,2 q.96 a.6 ad 2; 2,2 q.120 a.1 ad 3). Thomas sieht die E. vorwiegend als Tugend; eine gewisse Rolle spielt für ihn auch die Interpretation (vgl. Menschl. Gesetz) der Absicht des Gesetzgebers. F. de Suàrez dagegen versteht die E. in erster Linie als Interpretation: Ein Gesetz, das sich in einem bestimmten Fall als mangelhaft herausstelle, verpflichte nicht; der Betroffene sei berechtigt, auf die (als wohlwollend angenommene) Absicht des Gesetzgebers rückzufragen u. sich an sie zu halten. Suàrez analysiert die E. als kluges Urteil (Klugheit), ein Gesetz gelte für einen bestimmten Fall nicht, u. als Willen, dann gegen den Buchstaben des Gesetzes zu handeln (De leg. VI 6,5); sie falle in den Bereich verschiedener Tugenden, nicht nur der Gerechtigkeit (De leg. VI 6,6). Bedeutsam unterscheidet sich Suàrez von Thomas auch dadurch, daß er die E. im Dienst nicht nur des Gemeinwohls, sondern auch des Wohls der einzelnen Person als anzuwendend ansieht. Der Einzelperson stehe die E. zu, a) wenn sie vom Gesetzgeber unberechtigt beansprucht wird (De leg. VI 8,6), näml. wenn ihr etwas sittl. Schlechtes od. etwas über ihre Kräfte Gehendes zugemutet wird (De leg. VI 7,8-10), od. b) wenn sie annehmen kann, der Gesetzgeber, der sie verpflichten könnte, wolle sie wegen besonderer Umstände nicht verpflichten (De leg. VI 7,11). Man dürfe also den Buchstaben des Gesetzes vernachlässigen, um die Absicht des Gesetzgebers zu erfüllen (De leg. VI 7,11), die ja die Seele des Gesetzes sei (De leg. I 5,24; VI 3,30). Die E. erlangt damit mehr den Charakter der Entschuldigung vom Gesetz als der besseren Erfüllung der Gerechtigkeit. Durch lange Zeit nach Suàrez bleibt die E. Interpretationsprinzip für das positive Gesetz, wobei die Akzente verschieden gesetzt werden: Über die Absicht des Gesetzgebers hinaus sei nach dem höheren Recht zu fragen, nach dem sich Gesetzgeber u. Untergebener richten müssen; die E. sei dem Bereich des kirchl. Gesetzes zuzuweisen, während man sich im Bereich des bürgerl. Gesetzes eher mit der Theorie vom Pönalgesetz (vgl. Menschl. Gesetz) helfen könne. Mit der Überwindung dieser letzteren Theorie gewinnt die E. an Bedeutung; heute wird sie wieder mehr im Sinn von Aristoteles und Thomas als Tugend, als Korrektur des Gesetzes gemäß dem Naturrecht zur besseren Verwirklichung der Gerechtigkeit u. des Gemeinwohls mit einem weiteren Anwendungsbereich, als Thomas ihn zugesteht, gesehen.


Die E. baut auf der eigenen sittl. Verantwortung jedes Menschen auf: jeder ist zu situationsrichtigem Verhalen verpflichtet u. berechtigt; das menschl. Gesetz hat den Sinn, dem einzelnen zu einem richtigen Verhalten im gesellschaftl. Zusammenleben zu helfen. Da es dem menschl. Gesetzgeber nicht mögl. ist, alle künftigen Situationen der Menschen, die von einem Gesetz betroffen werden, im voraus zu berücksichtigen, muß man immer damit rechnen, daß Situationen eintreten können, in denen nicht das Verhalten gemäß dem Gesetz, sondern ein davon abweichendes Verhalten sachrichtig ist. E. bedeutet dann nicht das schlaue Umgehen der gesetzl. Forderung, sondern das Streben nach der Sachrichtigkeit, die manchmal gegenüber der gesetzl. Forderung das Leichtere, manchmal auch das Schwerere sein kann.


Das Feld der E. ist das menschl. Gesetz. lhre Zulassung bloß auf das Gemeinwohl, nicht auch auf das Wohl der Einzelperson hin (Thomas v. Aq.) würde voraussetzen, daß das Gemeinwohl auf jeden Fall vor dem Einzelwohl den Vorrang hat; das scheint aber nicht zuzutreffen (vgl. Pflichtenkollision). Manche Autoren wollen dem Gemeinwohl wenigstens so weit den Vorrang geben, daß sie die E. im Bereich der irritierenden od. inhabilitierenden Gesetze (vgl. CICc. 11) nicht zulassen wollen, weil es sonst um die Rechtssicherheit geschehen wäre, um die es in diesen Gesetzen geht; es fragt sich aber, ob nicht gerade durch die Sachunrichtigkeit solcher Gesetze einzelnen Personen derartige Härten drohen können, daß sie berechtigt sind, ihr persönliches Wohl vor das Gemeinwohl zu stellen. Wer die E. vordringl. als Interpretation des gesetzgeberischen Willens versteht, wird daraus folgern, daß man vor ihrer Anwendung den Gesetzgeber (od. seinen Bevollmächtigten) befragen muß, wenn es mögl. ist. Wer jedoch in der E. in erster Linie das Streben nach Sachrichtigkeit sieht, wird mit der Auferlegung einer solchen Pflicht vorsichtiger sein. Gewiß hängt in vielen Fällen die letzte Konkretisierung einer sachrichtigen Forderung vom Gesetzgeber ab; aber abgesehen davon, daß nicht alle Gesetzgeber guten Willens sind, können auch den gutwilligen Fehler unterlaufen, die ihnen sogar bei Befragung nicht genügend bewußt werden.


Selbstverständl. gibt es keine E. gegenüber eindeutigen Forderungen des göttl. Gesetzes; fragl. kann allerdings sein, ob die von uns gefundene Fassung des göttl. Gesetzes immer das Richtige trifft. Das AT (Alttestamentl. Gesetz) zeigt uns, daß selbst das durch Menschen vermittelte positive göttl. Gesetz inadäquat formuliert sein kann. In den Makkabäerkämpfen stellten die Syrer in der schlauen Berechnung, daß die Israeliten am Sabbat nicht streiten würden, einen Teil von ihnen eben an diesem Tag zum Kampf. In der Tat unterließen die Angegriffenen jegl. Verteidigungsmaßnahme, weil sie meinten, sie sei ihnen durch das Gebot der Sabbatruhe verwehrt. Als Mattatias u. seine Freunde von ihrer Niedermetzelung erfuhren, drängte sich ihnen die Erkenntnis auf, der göttl. Gesetzgeber habe sie für einen solchen Fall nicht zur Sabbatruhe verpflichten wollen, u. sie beschlossen, sich künftig auch am Sabbat zu wehren (1 Makk 2,29-41).


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