Das Zweite Vatikanische Konzil
Dekret über den Ökumenismus
1. Die Einheit aller Christen wiederherstellen
zu helfen ist eine der Hauptaufgaben des Heiligen Ökumenischen Zweiten
Vatikanischen Konzils. Denn Christus der Herr hat eine einige und einzige
Kirche gegründet, und doch erheben mehrere christliche Gemeinschaften
vor den Menschen den Anspruch, das wahre Erbe Jesu Christi darzustellen;
sie alle bekennen sich als Jünger des Herrn, aber sie weichen in ihrem
Denken voneinander ab und gehen verschiedene Wege, als ob Christus selber
geteilt wäre1. Eine solche Spaltung widerspricht
aber ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für
die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung
des Evangeliums vor allen Geschöpfen. Der Herr der Geschichte aber,
der seinen Gnadenplan mit uns Sündern in Weisheit und Langmut verfolgt,
hat in jüngster Zeit begonnen, über die gespaltene Christenheit
ernste Reue und Sehnsucht nach Einheit reichlicher auszugießen. Von
dieser Gnade sind heute überall sehr viele Menschen ergriffen, und
auch unter unsern getrennten Brüdern ist unter der Einwirkung der
Gnade des Heiligen Geistes eine sich von Tag zu Tag ausbreitende Bewegung
zur Wiederherstellung der Einheit aller Christen entstanden. Diese Einheitsbewegung,
die man als ökumenische Bewegung bezeichnet, wird von Menschen getragen,
die den dreieinigen Gott anrufen und Jesus als Herrn und Erlöser bekennen,
und zwar nicht nur einzeln für sich, sondern auch in ihren Gemeinschaften,
in denen sie die frohe Botschaft vernommen haben und die sie ihre Kirche
und Gottes Kirche nennen. Fast alle streben, wenn auch auf verschiedene
Weise, zu einer einen, sichtbaren Kirche Gottes hin, die in Wahrheit allumfassend
und zur ganzen Welt gesandt ist, damit sich die Welt zum Evangelium bekehre
und so ihr Heil finde zur Ehre Gottes. Dies alles erwägt die Heilige
Synode freudigen Herzens und, nachdem sie die Lehre von der Kirche dargestellt
hat, möchte sie, bewegt von dem Wunsch nach der Wiederherstellung
der Einheit unter allen Jüngern Christi, allen Katholiken die Mittel
und Wege nennen und die Weise aufzeigen, wie sie selber diesem göttlichen
Ruf und dieser Gnade Gottes entsprechen können.
1. Kapitel: Die katholischen Prinzipien des Ökumenismus
2. Darin ist unter uns die Liebe
Gottes erschienen, daß der eingeborene Sohn Gottes vom Vater in die
Welt gesandt wurde, damit er, Mensch geworden, das ganze Menschengeschlecht
durch die Erlösung zur Wiedergeburt führe und in eins versammle
2.
Bevor er sich selbst auf dem Altar des Kreuzes als makellose Opfergabe
darbrachte, hat er für alle, die an ihn glauben, zum Vater gebetet,
"daß alle eins seien, wie Du, Vater, in mir, und ich in Dir, daß
auch sie in uns eins seien: damit die Welt glaubt, daß Du mich gesandt
hast" (Joh 17,21), und er hat in seiner Kirche das wunderbare Sakrament
der Eucharistie gestiftet, durch das die Einheit der Kirche bezeichnet
und bewirkt wird. Seinen Jüngern hat er das neue Gebot der gegenseitigen
Liebe gegeben
3 und den Geist, den Beistand,
verheißen
4, der als Herr und Lebensspender
in Ewigkeit bei ihnen bleiben sollte. Nachdem der Herr Jesus am Kreuze
erhöht und verherrlicht war, hat er den verheißenen Geist ausgegossen,
durch den er das Volk des Neuen Bundes, das die Kirche ist, zur Einheit
des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe berufen und versammelt, wie uns
der Apostel lehrt: "Ein Leib und ein Geist, wie ihr berufen seid in einer
Hoffnung eurer Berufung. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe" (Eph 4,4-5).
Denn "ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen
... Ihr alle seid ja einer in Christus Jesus" (Gal 3,27-28). Der Heilige
Geist, der in den Gläubigen wohnt und die ganze Kirche leitet und
regiert, schafft diese wunderbare Gemeinschaft der Gläubigen und verbindet
sie in Christus so innig, daß er das Prinzip der Einheit der Kirche
ist. Er selbst wirkt die Verschiedenheit der Gaben und Dienste
5,
indem er die Kirche Jesu Christi mit mannigfaltigen Gaben bereichert "zur
Vollendung der Heiligen im Werk des Dienstes, zum Aufbau des Leibes Christi"
(Eph 4,12). Um nun diese seine heilige Kirche überall auf Erden bis
zum Ende der Zeiten fest zu begründen, hat Christus das Amt der Lehre,
der Leitung und der Heiligung dem Kollegium der Zwölf anvertraut
6.
Unter ihnen hat er den Petrus ausgewählt, auf dem er nach dem Bekenntnis
des Glaubens seine Kirche zu bauen beschlossen hat; ihm hat er die Schlüssel
des Himmelreiches verheißen
7 und nach
dessen Liebesbekenntnis alle Schafe anvertraut, damit er sie im Glauben
stärken
8 und in vollkommener Einheit weiden
solle
9, wobei Christus Jesus selbst der höchste
Eckstein
10 und der Hirt unserer Seelen
11
in Ewigkeit bleibt. Jesus Christus will, daß sein Volk durch die
gläubige Predigt des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente
durch die Apostel und durch ihre Nachfolger, die Bischöfe mit dem
Nachfolger Petri als Haupt, sowie durch ihre Leitung in Liebe unter der
Wirksamkeit des Heiligen Geistes wachse, und er vollendet seine Gemeinschaft
in der Einheit: im Bekenntnis des einen Glaubens, in der gemeinsamen Feier
des Gottesdienstes und in der brüderlichen Eintracht der Familie Gottes.
So ist die Kirche, Gottes alleinige Herde, wie ein unter den Völkern
erhobenes Zeichen
12. Indem sie dem ganzen
Menschengeschlecht den Dienst des Evangeliums des Friedens leistet
13,
pilgert sie in Hoffnung dem Ziel des ewigen Vaterlandes entgegen
14Dies ist das heilige Geheimnis der
Einheit der Kirche in Christus und durch Christus, indes der Heilige Geist
die Mannigfaltigkeit der Gaben schafft. Höchstes Vorbild und Urbild
dieses Geheimnisses ist die Einheit des einen Gottes, des Vaters und des
Sohnes im Heiligen Geist in der Dreiheit der Personen.
3. In dieser einen und einzigen Kirche Gottes sind schon von den ersten Zeiten an Spaltungen entstanden
15,
die der Apostel aufs schwerste tadelt und verurteilt
16;
in den späteren Jahrhunderten aber sind ausgedehntere Verfeindungen
entstanden, und es kam zur Trennung recht großer Gemeinschaften von
der vollen Gemeinschaft der katholischen Kirche, oft nicht ohne Schuld
der Menschen auf beiden Seiten. Den Menschen jedoch, die jetzt in solchen
Gemeinschaften geboren sind und in ihnen den Glauben an Christus erlangen,
darf die Schuld der Trennung nicht zur Last gelegt werden - die katholische
Kirche betrachtet sie als Brüder, in Verehrung und Liebe. Denn wer
an Christus glaubt und in der rechten Weise die Taufe empfangen hat, steht
dadurch in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit
der katholischen Kirche. Da es zwischen ihnen und der katholischen Kirche
sowohl in der Lehre und bisweilen auch in der Disziplin wie auch bezüglich
der Struktur der Kirche Diskrepanzen verschiedener Art gibt, so stehen
sicherlich nicht wenige Hindernisse der vollen kirchlichen Gemeinschaft
entgegen, bisweilen recht schwerwiegende, um deren Überwindung die
ökumenische Bewegung bemüht ist. Nichtsdestoweniger sind sie
durch den Glauben in der Taufe gerechtfertigt und Christus eingegliedert
17,
darum gebührt ihnen der Ehrenname des Christen, und mit Recht werden
sie von den Söhnen der katholischen Kirche als Brüder im Herrn
anerkannt
18. Hinzu kommt, daß einige,
ja sogar viele und bedeutende Elemente oder Güter, aus denen insgesamt
die Kirche erbaut wird und ihr Leben gewinnt, auch außerhalb der
sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche existieren können: das
geschriebene Wort Gottes, das Leben der Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe
und andere innere Gaben des Heiligen Geistes und sichtbare Elemente: all
dieses, das von Christus ausgeht und zu ihm hinführt, gehört
rechtens zu der einzigen Kirche Christi. Auch zahlreiche liturgische Handlungen
der christlichen Religion werden bei den von uns getrennten Brüdern
vollzogen, die auf verschiedene Weise je nach der verschiedenen Verfaßtheit
einer jeden Kirche und Gemeinschaft ohne Zweifel tatsächlich das Leben
der Gnade zeugen können und als geeignete Mittel für den Zutritt
zur Gemeinschaft des Heiles angesehen werden müssen. Ebenso sind diese
getrennten Kirchen
19 und Gemeinschaften trotz
der Mängel, die ihnen nach unserem Glauben anhaften, nicht ohne Bedeutung
und Gewicht im Geheimnis des Heiles. Denn der Geist Christi hat sich gewürdigt,
sie als Mittel des Heiles zu gebrauchen, deren Wirksamkeit sich von der
der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit
herleitet. Dennoch erfreuen sich die von uns getrennten Brüder, sowohl
als einzelne wie auch als Gemeinschaften und Kirchen betrachtet, nicht
jener Einheit, die Jesus Christus all denen schenken wollte, die er zu
einem Leibe und zur Neuheit des Lebens wiedergeboren und lebendig gemacht
hat, jener Einheit, die die Heilige Schrift und die verehrungswürdige
Tradition der Kirche bekennt. Denn nur durch die katholische Kirche Christi,
die das allgemeine Hilfsmittel des Heiles ist, kann man Zutritt zu der
ganzen Fülle der Heilsmittel haben. Denn einzig dem Apostelkollegium,
an dessen Spitze Petrus steht, hat der Herr, so glauben wir, alle Güter
des Neuen Bundes anvertraut, um den einen Leib Christi auf Erden zu konstituieren,
welchem alle völlig eingegliedert werden müssen, die schon auf
irgendeine Weise zum Volke Gottes gehören. Dieses Volk Gottes bleibt
zwar während seiner irdischen Pilgerschaft in seinen Gliedern der
Sünde ausgesetzt, aber es wächst in Christus und wird von Gott
nach seinem geheimnisvollen Ratschluß sanft geleitet, bis es zur
ganzen Fülle der ewigen Herrlichkeit im himmlischen Jerusalem freudig
gelangt.
4. Unter dem Wehen der Gnade des Heiligen Geistes gibt es heute in vielen Ländern auf Erden Bestrebungen,
durch Gebet, Wort und Werk zu jener Fülle der Einheit zu gelangen,
die Jesus Christus will. Daher mahnt dieses Heilige Konzil alle katholischen
Gläubigen, daß sie, die Zeichen der Zeit erkennend, mit Eifer
an dem ökumenischen Werk teilnehmen. Unter der "Ökumenischen
Bewegung' 'versteht man Tätigkeiten und Unternehmungen, die je nach
den verschiedenartigen Bedürfnissen der Kirche und nach Möglichkeit
der Zeitverhältnisse zur Förderung der Einheit der Christen ins
Leben gerufen und auf dieses Ziel ausgerichtet sind. Dazu gehört:
Zunächst alles Bemühen zur Ausmerzung aller Worte, Urteile und
Taten, die der Lage der getrennten Brüder nach Gerechtigkeit und Wahrheit
nicht entsprechen und dadurch die gegenseitigen Beziehungen mit ihnen erschweren;
ferner der "Dialog", der bei Zusammenkünften der Christen aus verschiedenen
Kirchen oder Gemeinschaften, die vom Geist der Frömmigkeit bestimmt
sind, von wohlunterrichteten Sachverständigen geführt wird, wobei
ein jeder die Lehre seiner Gemeinschaft tiefer und genauer erklärt,
so daß das Charakteristische daran deutlich hervortritt. Durch diesen
Dialog erwerben alle eine bessere Kenntnis der Lehre und des Lebens jeder
von beiden Gemeinschaften und eine gerechtere Würdigung derselben.
Von hier aus gelangen diese Gemeinschaften auch zu einer stärkeren
Zusammenarbeit in den Aufgaben des Gemeinwohls, die jedes christliche Gewissen
fordert, und sie kommen, wo es erlaubt ist, zum gemeinsamen Gebet zusammen.
Schließlich prüfen hierbei alle ihre Treue gegenüber dem
Willen Christi hinsichtlich der Kirche und gehen tatkräftig ans Werk
der notwendigen Erneuerung und Reform. Wenn dies alles von den Gläubigen
der katholischen Kirche unter der Aufsicht ihrer Hirten mit Klugheit und
Geduld vollzogen wird, trägt es zur Verwirklichung der Gerechtigkeit
und Wahrheit, Eintracht und Zusammenarbeit, der brüderlichen Liebe
und Einheit bei, so daß dadurch allmählich die Hindernisse,
die sich der völligen kirchlichen Gemeinschaft entgegenstellen, überwunden
und alle Christen zur selben Eucharistiefeier, zur Einheit der einen und
einzigen Kirche versammelt werden, die Christus seiner Kirche von Anfang
an geschenkt hat, eine Einheit, die nach unserem Glauben unverlierbar in
der katholischen Kirche besteht, und die, wie wir hoffen, immer mehr wachsen
wird bis zur Vollendung der Zeiten. Es ist klar, daß die Vorbereitung
und die Wiederaufnahme solcher Einzelner, die die volle katholische Gemeinschaft
wünschen, ihrer Natur nach etwas von dem ökumenischen Werk Verschiedenes
ist; es besteht jedoch kein Gegensatz zwischen ihnen, da beides aus dem
wunderbaren Ratschluß Gottes hervorgeht. Ohne Zweifel müssen
die katholischen Gläubigen bei ihrer ökumenischen Aktion um die
getrennten Christen besorgt sein, indem sie für sie beten, sich über
kirchliche Angelegenheiten mit ihnen austauschen, den ersten Schritt zu
ihnen tun. Aber in erster Linie sollen sie doch ehrlich und eifrig ihr
Nachdenken darauf richten, was in der eigenen katholischen Familie zu erneuern
und was zu tun ist, damit ihr Leben mit mehr Treue und Klarheit für
die Lehre und die Einrichtungen Zeugnis gebe, die ihnen von Christus her
durch die Apostel überkommen sind. Obgleich nämlich die katholische
Kirche mit dem ganzen Reichtum der von Gott geoffenbarten Wahrheit und
der Gnadenmittel beschenkt ist, ist es doch Tatsache, daß ihre Glieder
nicht mit der entsprechenden Glut daraus leben, so daß das Antlitz
der Kirche den von uns getrennten Brüdern und der ganzen Welt nicht
recht aufleuchtet und das Wachstum des Reiches Gottes verzögert wird.
Deshalb müssen alle Katholiken zur christlichen Vollkommenheit streben
20
und, ihrer jeweiligen Stellung entsprechend, bemüht sein, daß
die Kirche, die die Niedrigkeit und das Todesleiden Christi an ihrem Leibe
trägt
21, von Tag zu Tag geläutert
und erneuert werde, bis Christus sie sich dereinst glorreich darstellt,
ohne Makel und Runzeln
22. Alle in der Kirche
sollen unter Wahrung der Einheit im Notwendigen je nach der Aufgabe eines
jeden in den verschiedenen Formen des geistlichen Lebens und der äußeren
Lebensgestaltung, in der Verschiedenheit der liturgischen Riten sowie der
theologischen Ausarbeitung der Offenbarungswahrheit die gebührende
Freiheit walten lassen, in allem aber die Liebe üben. Auf diese Weise
werden sie die wahre Katholizität und Apostolizität der Kirche
immer vollständiger zum Ausdruck bringen. Auf der anderen Seite ist
es notwendig, daß die Katholiken die wahrhaft christlichen Güter
aus dem gemeinsamen Erbe mit Freude anerkennen und hochschätzen, die
sich bei den von uns getrennten Brüdern finden. Es ist billig und
heilsam, die Reichtümer Christi und das Wirken der Geisteskräfte
im Leben der anderen anzuerkennen, die für Christus Zeugnis geben,
manchmal bis zur Hingabe des Lebens: Denn Gott ist immer wunderbar und
bewunderungswürdig in seinen Werken. Man darf auch nicht übergehen,
daß alles, was von der Gnade des Heiligen Geistes in den Herzen der
getrennten Brüder gewirkt wird, auch zu unserer eigenen Auferbauung
beitragen kann. Denn was wahrhaft christlich ist, steht niemals im Gegensatz
zu den echten Gütern des Glaubens, sondern kann immer dazu helfen,
daß das Geheimnis Christi und der Kirche vollkommener erfaßt
werde. Aber gerade die Spaltungen der Christen sind für die Kirche
ein Hindernis, daß sie die ihr eigene Fülle der Katholizität in jenen Söhnen wirksam werden läßt, die ihr zwar durch
die Taufe zugehören, aber von ihrer völligen Gemeinschaft getrennt
sind. Ja, es wird dadurch auch für die Kirche selber schwieriger,
die Fülle der Katholizität unter jedem Aspekt in der Wirklichkeit
des Lebens auszuprägen. Mit Freude bemerkt das Heilige Konzil, daß die Teilnahme der katholischen Gläubigen am ökumenischen Werk
von Tag zu Tag wächst, und empfiehlt sie den Bischöfen auf dem ganzen Erdkreis, daß sie von ihnen eifrig gefördert und mit
Klugheit geleitet werde.
2. Kapitel: Die praktische Verwirklichung des Ökumenismus
5. Die Sorge um die Wiederherstellung
der Einheit ist Sache der ganzen Kirche, sowohl der Gläubigen wie
auch der Hirten, und geht einen jeden an, je nach seiner Fähigkeit,
sowohl in seinem täglichen christlichen Leben wie auch bei theologischen
und historischen Untersuchungen. Diese Sorge macht schon einigermaßen
deutlich, daß eine brüderliche Verbindung zwischen allen Christen
schon vorhanden ist; sie ist es, die schließlich nach dem gnädigen
Willen Gottes zur vollen und vollkommenen Einheit hinführt.
6. Jede Erneuerung der Kirche
23 besteht wesentlich im Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung,
und so ist ohne Zweifel hierin der Sinn der Bewegung in Richtung auf die
Einheit zu sehen. Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus
zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie
menschliche und irdische Einrichtung ist; was also etwa je nach den Umständen
und Zeitverhältnissen im sittlichen Leben, in der Kirchenzucht oder
auch in der Art der Lehrverkündigung - die von dem Glaubensschatz
selbst genau unterschieden werden muß - nicht genau genug bewahrt
worden ist, muß deshalb zu gegebener Zeit sachgerecht und pflichtgemäß
erneuert werden. Dieser Erneuerung kommt also eine besondere ökumenische
Bedeutung zu. Und so sind die verschiedenen Lebensäußerungen
der Kirche, in denen diese Erneuerung sich schon verwirklicht - wie etwa
die biblische und die liturgische Bewegung, die Predigt des Wortes Gottes
und die Katechese, das Laienapostolat, neue Formen des gottgeweihten Lebens,
die Spiritualität der Ehe, die Lehre und Wirksamkeit der Kirche im
sozialen Bereich - als Unterpfand und als gute Vorbedeutung zu sehen, die
den künftigen Fortschritt des Ökumenismus schon verheißungsvoll
ankündigen.
7. Es gibt keinen echten Ökumenismus
ohne innere Bekehrung. Denn aus dem Neuwerden des Geistes
24,
aus der Selbstverleugnung und aus dem freien Strömen der Liebe erwächst
und reift das Verlangen nach der Einheit. Deshalb müssen wir vom göttlichen
Geiste die Gnade aufrichtiger Selbstverleugnung, der Demut und des geduldigen
Dienstes sowie der brüderlichen Herzensgüte zueinander erflehen.
Der Völkerapostel sagt: "So ermahne ich euch denn, ich der Gefangene
im Herrn, wandelt würdig der Berufung, zu der ihr berufen seid, mit
aller Demut und Sanftmut, ertraget einander geduldig in Liebe; bestrebt
euch, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens"
(Eph 4,1-3). Diese Mahnung gilt besonders denen, die die heiligen Weihen
empfangen haben, damit die Sendung Christi, der zu uns kam, "nicht um bedient
zu werden. sondern um zu dienen" (Mt 20,28), ihre Fortsetzung finde. Auch
von den Sünden gegen die Einheit gilt das Zeugnis des heiligen Johannes:
"Wenn wir sagen, wir hätten nicht gesündigt. so machen wir ihn
zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns" (1 Joh 1,10). In Demut
bitten wir also Gott und die getrennten Brüder um Verzeihung, wie
auch wir unseren Schuldigern vergeben. Alle Christgläubigen sollen
sich bewußt sein, daß sie die Einheit der Christen um so besser
fördern, ja sogar einüben, je mehr sie nach einem reinen Leben
gemäß dem Evangelium streben. Je inniger die Gemeinschaft ist,
die sie mit dem Vater, dem Wort und dem Geist vereint, um so inniger und
leichter werden sie imstande sein, die gegenseitige Brüderlichkeit
zu vertiefen.
8. Diese Bekehrung des Herzens und
die Heiligkeit des Lebens ist in Verbindung mit dem privaten und öffentlichen
Gebet für die Einheit der Christen als die Seele der ganzen ökumenischen
Bewegung anzusehen; sie kann mit Recht geistlicher Ökumenismus genannt
werden. Es ist unter Katholiken schon üblich geworden, daß sie
häufig zu diesem Gebet für die Einheit der Kirche zusammenkommen,
die der Heiland selbst am Vorabend seines Todes vom Vater inständig
erfleht hat: "Daß alle eins seien" (Joh 17,21). Bei besonderen Anlässen,
zum Beispiel bei Gebeten, die "für die Einheit" verrichtet werden,
und bei ökumenischen Versammlungen, ist es erlaubt und auch erwünscht,
daß sich die Katholiken mit den getrennten Brüdern im Gebet
zusammenfinden. Solche gemeinsamen Gebete sind ein höchst wirksames
Mittel, um die Gnade der Einheit zu erflehen, und ein echter Ausdruck der
Gemeinsamkeit, in der die Katholiken mit den getrennten Brüdern immer
noch verbunden sind: "Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem
Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt 18,20). Man darf jedoch die Gemeinschaft
beim Gottesdienst (communicatio in sacris) nicht als ein allgemein und
ohne Unterscheidung gültiges Mittel zur Wiederherstellung der Einheit
der Christen ansehen. Hier sind hauptsächlich zwei Prinzipien maßgebend:
die Bezeugung der Einheit der Kirche und die Teilnahme an den Mitteln der
Gnade. Die Bezeugung der Einheit verbietet in den meisten Fällen die
Gottesdienstgemeinschaft, die Sorge um die Gnade empfiehlt sie indessen
in manchen Fällen. Wie man sich hier konkret zu verhalten hat, soll
unter Berücksichtigung aller Umstände der Zeit, des Ortes und
der Personen die örtliche bischöfliche Autorität in klugem
Ermessen entscheiden, soweit nicht etwas anderes von der Bischofskonferenz
nach Maßgabe ihrer eigenen Statuten oder vom Heiligen Stuhl bestimmt
ist.
9. Man muß den Geist und die Sinnesart der getrennten Brüder kennen. Dazu bedarf es notwendig des
Studiums, das der Wahrheit gemäß und in wohlwollender Gesinnung
durchzuführen ist. Katholiken, die dazu gebührend gerüstet
sind, sollen sich eine bessere Kenntnis der Lehre und der Geschichte, des
geistlichen und liturgischen Lebens, der religiösen Psychologie und
Kultur, die den Brüdern eigen ist, erwerben. Dazu sind gemeinsame
Zusammenkünfte, besonders zur Behandlung theologischer Fragen, sehr
dienlich, bei denen ein jeder mit dem anderen auf der Ebene der Gleichheit
spricht ("par cum pari agat"), vorausgesetzt, daß die, die unter
der Aufsicht ihrer Oberen daran teilnehmen, wirklich sachverständig
sind. Aus einem solchen Dialog kann auch klarer zutage treten, was die
wirkliche Situation der katholischen Kirche ist. Auf diesem Wege wird auch
die Denkweise der getrennten Brüder besser erkannt und ihnen unser
Glaube in geeigneterer Weise auseinandergesetzt.
10. Die Unterweisung in der heiligen
Theologie und in anderen, besonders den historischen Fächern muß
auch unter ökumenischem Gesichtspunkt geschehen, damit sie um so genauer
der Wahrheit und Wirklichkeit entspricht. Denn es liegt viel daran, daß
die zukünftigen Hirten und Priester über eine Theologie verfügen,
die ganz in diesem Sinne und nicht polemisch erarbeitet wurde, besonders
bei jenen Gegenständen, die die Beziehungen der getrennten Brüder
zur katholischen Kirche betreffen. Von der Ausbildung der Priester hängt
ja die notwendige Unterweisung und geistliche Bildung der Gläubigen
und der Ordensleute ganz besonders ab. Auch die Katholiken, die in denselben
Ländern wie andere Christen im Dienst der Mission stehen, müssen
gerade heute erkennen, welche Fragen sich hier ergeben und welche Früchte
für ihr Apostolat der Ökumenismus heranreifen läßt.
11. Die Art und Weise der Formulierung
des katholischen Glaubens darf keinerlei Hindernis bilden für den
Dialog mit den Brüdern. Die gesamte Lehre muß klar vorgelegt
werden. Nichts ist dem ökumenischen Geist so fern wie jener falsche
Irenismus, durch den die Reinheit der katholischen Lehre Schaden leidet
und ihr ursprünglicher und sicherer Sinn verdunkelt wird. Zugleich
muß aber der katholische Glaube tiefer und richtiger ausgedrückt
werden auf eine Weise und in einer Sprache, die auch von den getrennten
Brüdern wirklich verstanden werden kann. Darüber hinaus müssen
beim ökumenischen Dialog die katholischen Theologen, wenn sie in Treue
zur Lehre der Kirche in gemeinsamer Forschungsarbeit mit den getrennten
Brüdern die göttlichen Geheimnisse zu ergründen suchen,
mit Wahrheitsliebe, mit Liebe und Demut vorgehen. Beim Vergleich der Lehren
miteinander soll man nicht vergessen, daß es eine Rangordnung oder
"Hierarchie" der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt, je nach
der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen
Glaubens. So wird der Weg bereitet werden, auf dem alle in diesem brüderlichen
Wettbewerb zur tieferen Erkenntnis und deutlicheren Darstellung der unerforschlichen
Reichtümer Christi angeregt werden
25.
12. Vor der ganzen Welt sollen alle Christen ihren Glauben an den einen, dreifaltigen Gott, an den menschgewordenen
Sohn Gottes, unsern Erlöser und Herrn, bekennen und in gemeinsamem
Bemühen in gegenseitiger Achtung Zeugnis geben für unsere Hoffnung,
die nicht zuschanden wird. Da in heutiger Zeit die Zusammenarbeit im sozialen
Bereich sehr weit verbreitet ist, sind alle Menschen ohne Ausnahme zu gemeinsamem
Dienst gerufen, erst recht diejenigen, die an Gott glauben, am meisten
aber alle Christen, die ja mit dem Namen Christi ausgezeichnet sind. Durch
die Zusammenarbeit der Christen kommt die Verbundenheit, in der sie schon
untereinander vereinigt sind, lebendig zum Ausdruck, und das Antlitz Christi,
des Gottesknechtes, tritt in hellerem Licht zutage. Diese Zusammenarbeit,
die bei vielen Völkern schon besteht, muß mehr und mehr vervollkommnet
werden, besonders in jenen Ländern, wo die soziale und technische
Entwicklung erst im Werden ist. Das gilt sowohl für die Aufgabe, der
menschlichen Person zu ihrer wahren Würde zu verhelfen, für die
Förderung des Friedens, für die Anwendung des Evangeliums auf
die sozialen Fragen, für die Pflege von Wissenschaft und Kunst aus
christlichem Geiste, wie auch für die Bereitstellung von Heilmitteln
aller Art gegen die Nöte unserer Zeit, wie gegen Hunger und Katastrophen,
gegen den Analphabetismus und die Armut, gegen die Wohnungsnot und die
ungerechte Verteilung der Güter. Bei dieser Zusammenarbeit können
alle, die an Christus glauben, unschwer lernen, wie sie einander besser
kennen und höher achten können und wie der Weg zur Einheit der
Christen bereitet wird.
3. Kapitel: Die vom Römischen Apostolischen Stuhl getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften
13. Zwei besondere Kategorien von Spaltungen, durch die der nahtlose Leibrock Christi getroffen wurde, wollen
wir nun näher ins Auge fassen. Die erste dieser Spaltungen geschah
im Orient, und zwar entweder aufgrund einer dogmatischen Bestreitung von
Glaubensformeln der Konzilien von Ephesus und Chalcedon oder, in späterer
Zeit, durch die Aufhebung der kirchlichen Gemeinschaft zwischen den Patriarchaten
des Orients und dem Römischen Stuhl. Andere Spaltungen entstanden
sodann mehr als vier Jahrhunderte später im Abendland aufgrund von
Ereignissen, die man die Reformation nennt. Seither sind mehrere nationale
oder konfessionelle Gemeinschaften vom Römischen Stuhl getrennt. Unter
denjenigen von ihnen, bei denen katholische Traditionen und Strukturen
zum Teil fortbestehen, nimmt die Anglikanische Gemeinschaft einen besonderen
Platz ein. Indessen sind diese einzelnen Trennungen untereinander sehr
verschieden, nicht allein bedingt durch ihre Entstehung und durch die Umstände
von Ort und Zeit, sondern vor allem nach Art und Bedeutsamkeit der Probleme,
die sich auf den Glauben und die kirchliche Struktur beziehen. Deshalb
hat das Heilige Konzil, das weder die andersartige Situation der verschiedenen
Gemeinschaften der Christen geringachtet noch die trotz der Spaltung unter
ihnen bestehenden Bande übergehen will, beschlossen, folgende Erwägungen
zur Verwirklichung einer besonnenen ökumenischen Arbeit vorzulegen.
I. Die Orientalischen Kirchen
14. Die Kirchen des Orients und des Abendlandes sind Jahrhunderte hindurch je ihren besonderen Weg gegangen,
jedoch miteinander verbunden in brüderlicher Gemeinschaft des Glaubens
und des sakramentalen Lebens, wobei dem Römischen Stuhl mit allgemeiner
Zustimmung eine Führungsrolle zukam, wenn Streitigkeiten über
Glaube oder Disziplin unter ihnen entstanden. Mit Freude möchte die
Heilige Synode neben anderen sehr bedeutsamen Dingen allen die Tatsache
in Erinnerung rufen, daß im Orient viele Teilkirchen oder Ortskirchen
bestehen, unter denen die Patriarchalkirchen den ersten Rang einnehmen
und von denen nicht wenige sich ihres apostolischen Ursprungs rühmen.
Deshalb steht bei den Orientalen bis auf den heutigen Tag der Eifer und
die Sorge im Vordergrund, jene brüderlichen Bande der Gemeinschaft
im Glauben und in der Liebe zu bewahren, die zwischen Lokalkirchen als
Schwesterkirchen bestehen müssen. Es darf ebenfalls nicht unerwähnt
bleiben, daß die Kirchen des Orients von Anfang an einen Schatz besitzen,
aus dem die Kirche des Abendlandes in den Dingen der Liturgie, in ihrer
geistlichen Tradition und in der rechtlichen Ordnung vielfach geschöpft
hat. Auch das darf in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden,
daß die Grunddogmen des christlichen Glaubens von der Dreifaltigkeit
und von dem Wort Gottes, das aus der Jungfrau Maria Fleisch angenommen
hat, auf ökumenischen Konzilien definiert worden sind, die im Orient
stattgefunden haben. Jene Kirchen haben für die Bewahrung dieses Glaubens
viel gelitten und leiden noch heute. Das von den Aposteln überkommene
Erbe aber ist in verschiedenen Formen und auf verschiedene Weise übernommen,
und daher schon von Anfang an in der Kirche hier und dort verschieden ausgelegt
worden, wobei auch die Verschiedenheit der Mentalität und der Lebensverhältnisse
eine Rolle spielten. Dies alles hat, neben äußeren Gründen,
auch infolge des Mangels an Verständnis und Liebe füreinander
zu der Trennung Anlaß geboten, Deshalb ermahnt das Heilige Konzil
alle, besonders diejenigen, die sich um die so erwünschte Wiederherstellung
der vollen Gemeinschaft zwischen den orientalischen Kirchen und der katholischen
Kirche bemühen wollen, daß sie diese besonderen Umstände
der Entstehung und des Wachstums der Kirchen des Orients sowie die Art
der vor der Trennung zwischen ihnen und dem Römischen Stuhl bestehenden
Beziehungen gebührend berücksichtigen und sich über dies
alles ein rechtes Urteil bilden. Die genaue Beachtung dieser Frage wird
zu dem beabsichtigten Dialog im höchsten Maße beitragen.
15. Es ist allgemein bekannt, mit
welcher Liebe die orientalischen Christen die liturgischen Feiern begehen,
besonders die Eucharistiefeier, die Quelle des Lebens der Kirche und das
Unterpfand der kommenden Herrlichkeit, bei der die Gläubigen, mit
ihrem Bischof geeint, Zutritt zu Gott dem Vater haben durch den Sohn, das
fleischgewordene Wort, der gelitten hat und verherrlicht wurde, in der
Ausgießung des Heiligen Geistes, und so die Gemeinschaft mit der
allerheiligsten Dreifaltigkeit erlangen, indem sie,der göttlichen
Natur teilhaftig" (2 Petr 1,4) geworden sind. So baut sich auf und wächst
26
durch die Feier der Eucharistie des Herrn in diesen Einzelkirchen die Kirche
Gottes, und durch die Konzelebration wird ihre Gemeinschaft offenbar. Bei
diesem liturgischen Kult preisen die Orientalen mit herrlichen Hymnen Maria,
die allzeit Jungfräuliche, die das Ökumenische Konzil von Ephesus
feierlich als heilige Gottesgebärerin verkündet hat, damit dadurch
wahrhaft und eigentlich Christus als Gottes- und Menschensohn gemäß
der Schrift anerkannt werde. Ebenso verehren sie viele Heilige, unter ihnen
Väter der gesamten Kirche. Da nun diese Kirchen trotz ihrer Trennung
wahre Sakramente besitzen, vor allem aber in der Kraft der apostolischen
Sukzession das Priestertum und die Eucharistie, wodurch sie in ganz enger
Verwandtschaft bis heute mit uns verbunden sind, so ist eine gewisse Gottesdienstgemeinschaft
unter gegebenen geeigneten Umständen mit Billigung der kirchlichen
Autorität nicht nur möglich, sondern auch ratsam. Im Orient finden
sich auch die Reichtümer jener geistlichen Traditionen, die besonders
im Mönchtum ihre Ausprägung gefunden haben. Denn seit den glorreichen
Zeiten der heiligen Väter blühte dort jene monastische Spiritualität,
die sich von dorther auch in den Gegenden des Abendlandes ausbreitete und
aus der das Ordenswesen der Lateiner als aus seiner Quelle seinen Ursprung
nahm und immer wieder neue Kraft erhielt. Deshalb wird mit Nachdruck empfohlen,
daß die Katholiken sich mehr mit diesen geistlichen Reichtümern
der orientalischen Väter vertraut machen, die den Menschen in seiner
Ganzheit zur Betrachtung der göttlichen Dinge emporführen. Alle
sollen um die große Bedeutung wissen, die der Kenntnis, Verehrung,
Erhaltung und Pflege des überreichen liturgischen und geistlichen
Erbes der Orientalen zukommt, damit die Fülle der christlichen Tradition
in Treue gewahrt und die völlige Wiederversöhnung der orientalischen
und der abendländischen Christen herbeigeführt werde.
16. Schon von den ältesten Zeiten her hatten die Kirchen des Orients ihre eigenen Kirchenordnungen,
die von den heiligen Vätern und Synoden, auch von ökumenischen,
sanktioniert worden sind. Da nun eine gewisse Verschiedenheit der Sitten
und Gebräuche, wie sie oben erwähnt wurde, nicht im geringsten
der Einheit der Kirche entgegensteht, sondern vielmehr ihre Zierde und
Schönheit vermehrt und zur Erfüllung ihrer Sendung nicht wenig
beiträgt, so erklärt das Heilige Konzil feierlich, um jeden Zweifel
auszuschließen, daß die Kirchen des Orients, im Bewußtsein
der notwendigen Einheit der ganzen Kirche, die Fähigkeit haben, sich
nach ihren eigenen Ordnungen zu regieren, wie sie der Geistesart ihrer
Gläubigen am meisten entsprechen und dem Heil der Seelen am besten
dienlich sind. Die vollkommene Beobachtung dieses Prinzips, das in der
Tradition vorhanden, aber nicht immer beachtet worden ist, gehört
zu den Dingen, die zur Wiederherstellung der Einheit als notwendige Vorbedingung
durchaus erforderlich sind.
17. Was oben von der legitimen Verschiedenheit gesagt wurde, dasselbe soll nun auch von der verschiedenen
Art der theologischen Lehrverkündigung gesagt werden. Denn auch bei
der Erklärung der Offenbarungswahrheit sind im Orient und im Abendland
verschiedene Methoden und Arten des Vorgehens zur Erkenntnis und zum Bekenntnis
der göttlichen Dinge angewendet worden. Daher darf es nicht wundernehmen,
daß von der einen und von der anderen Seite bestimmte Aspekte des
offenbarten Mysteriums manchmal besser verstanden und deutlicher ins Licht
gestellt wurden, und zwar so, daß man bei jenen verschiedenartigen
theologischen Formeln oft mehr von einer gegenseitigen Ergänzung als
von einer Gegensätzlichkeit sprechen muß. Gerade gegenüber
den authentischen theologischen Traditionen der Orientalen muß anerkannt
werden, daß sie in ganz besonderer Weise in der Heiligen Schrift
verwurzelt sind, daß sie durch das liturgische Leben gefördert
und zur Darstellung gebracht werden, daß sie genährt sind von
der lebendigen apostolischen Tradition und von den Schriften der Väter
und geistlichen Schriftsteller des Orients und daß sie zur rechten
Gestaltung des Lebens, überhaupt zur vollständigen Betrachtung
der christlichen Wahrheit hinführen. Dieses Heilige Konzil erklärt,
daß dies ganze geistliche und liturgische, disziplinäre und
theologische Erbe mit seinen verschiedenen Traditionen zur vollen Katholizität
und Apostolizität der Kirche gehört; und sie sagt Gott dafür
Dank, daß viele orientalische Söhne der katholischen Kirche,
die dieses Erbe bewahren und den Wunsch haben, es reiner und vollständiger
zu leben, schon jetzt mit den Brüdern, die die abendländische
Tradition pflegen, in voller Gemeinschaft leben.
18. Im Hinblick auf all dies erneuert das Heilige Konzil feierlich, was in der Vergangenheit von Heiligen Konzilien
und von römischen Päpsten erklärt wurde, daß es nämlich
zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Gemeinschaft und Einheit notwendig
sei, "keine Lasten aufzuerlegen, die über das Notwendige hinausgehen"
(Apg 15,28). Es spricht den dringenden Wunsch aus, daß von nun an
alle ihr Bestreben darauf richten, diese Einheit allmählich zu erlangen
in den verschiedenen Einrichtungen und Lebensformen der Kirche, besonders
durch das Gebet und den brüderlichen Dialog über die Lehre und
über die drängenden Notwendigkeiten der Seelsorgsaufgaben in
unserer Zeit. In gleicher Weise empfiehlt das Heilige Konzil den Hirten
und den Gläubigen der katholischen Kirche eine enge Verbundenheit
mit denen, die nicht mehr im Orient, sondern fern von ihrer Heimat leben,
damit die brüderliche Zusammenarbeit mit ihnen im Geist der Liebe
und unter Ausschluß jeglichen Geistes streitsüchtiger Eifersucht
wachse. Wenn dieses Werk mit ganzer Seele in Angriff genommen wird, so
hofft das Heilige Konzil, daß die Wand, die die abendländische
und die orientalische Kirche trennt, einmal hinweggenommen werde und schließlich
nur eine einzige Wohnung sei, deren fester Eckstein Jesus Christus ist,
der aus beidem eines machen wird
27.
II. Die getrennten Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften im Abendland
19. Die Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften, die in der schweren Krise, die im Abendland schon vom Ende
des Mittelalters ihren Ausgang genommen hat, oder auch in späterer
Zeit vom Römischen Apostolischen Stuhl getrennt wurden, sind mit der
katholischen Kirche durch das Band besonderer Verwandtschaft verbunden,
da ja das christliche Volk in den Jahrhunderten der Vergangenheit so lange
Zeit sein Leben in kirchlicher Gemeinschaft geführt hat. Da jedoch
diese Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften wegen ihrer Verschiedenheit
nach Ursprung, Lehre und geistlichem Leben nicht nur uns gegenüber,
sondern auch untereinander nicht wenige Unterschiede aufweisen, so wäre
es eine überaus schwierige Aufgabe, sie recht zu beschreiben, was
wir hier zu unternehmen nicht beabsichtigen. Obgleich die ökumenische
Bewegung und der Wunsch nach Frieden mit der katholischen Kirche sich noch
nicht überall durchgesetzt hat, so hegen wir doch die Hoffnung, daß
bei allen ökumenischer Sinn und gegenseitige Achtung allmählich
wachsen. Dabei muß jedoch anerkannt werden, daß es zwischen
diesen Kirchen und Gemeinschaften und der katholischen Kirche Unterschiede
von großem Gewicht gibt, nicht nur in historischer, soziologischer,
psychologischer und kultureller Beziehung, sondern vor allem in der Interpretation
der offenbarten Wahrheit. Damit jedoch trotz dieser Unterschiede der ökumenische
Dialog erleichtert werde, wollen wir im folgenden einige Gesichtspunkte
hervorheben, die das Fundament und ein Anstoß zu diesem Dialog sein
können und sollen.
20. Unser Geist wendet sich zuerst den Christen zu, die Jesus Christus als Gott und Herrn und einzigen Mittler
zwischen Gott und den Menschen offen bekennen zur Ehre des einen Gottes,
des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wir wissen zwar, daß
nicht geringe Unterschiede gegenüber der Lehre der katholischen Kirche
bestehen, insbesondere über Christus als das fleischgewordene Wort
Gottes und über das Werk der Erlösung, sodann über das Geheimnis
und den Dienst der Kirche und über die Aufgabe Mariens im Heilswerk.
Dennoch freuen wir uns, wenn wir sehen, wie die getrennten Brüder
zu Christus als Quelle und Mittelpunkt der kirchlichen Gemeinschaft streben.
Aus dem Wunsch zur Vereinigung mit Christus werden sie notwendig dazu geführt,
die Einheit mehr und mehr zu suchen und für ihren Glauben überall vor allen Völkern Zeugnis zu geben.
21. Die Liebe und Hochschätzung, ja fast kultische Verehrung der Heiligen Schrift führen unsere Brüder
zu einem unablässigen und beharrlichen Studium dieses heiligen Buches:
Das Evangelium ist ja "eine Kraft Gottes zum Heile für jeden, der
glaubt, für den Juden zuerst, aber auch für den Griechen" (Röm 1,16). Unter Anrufung des Heiligen Geistes suchen sie in der Heiligen Schrift Gott, wie er zu ihnen spricht in Christus, der von den Propheten vorherverkündigt
wurde und der das für uns fleischgewordene Wort Gottes ist. In der
Heiligen Schrift betrachten sie das Leben Christi und was der göttliche
Meister zum Heil der Menschen gelehrt und getan hat, insbesondere die Geheimnisse
seines Todes und seiner Auferstehung. Während die von uns getrennten
Christen die göttliche Autorität der Heiligen Schrift bejahen,
haben sie jedoch, jeder wieder auf andere Art, eine von uns verschiedene
Auffassung von dem Verhältnis zwischen der Schrift und der Kirche,
wobei nach dem katholischen Glauben das authentische Lehramt bei der Erklärung
und Verkündigung des geschriebenen Wortes Gottes einen besonderen
Platz einnimmt. Nichtsdestoweniger ist die Heilige Schrift gerade beim
Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes,
um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet.
22. Der Mensch wird durch das Sakrament der Taufe, wenn es gemäß der Einsetzung des Herrn recht gespendet
und in der gebührenden Geistesverfassung empfangen wird, in Wahrheit
dem gekreuzigten und verherrlichten Christus eingegliedert und wiedergeboren
zur Teilhabe am göttlichen Leben nach jenem Wort des Apostels: "Ihr
seid in der Taufe mit ihm begraben, in ihm auch auferstanden durch den
Glauben an das Wirken Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat" (Kol 2,12)
28. Die Taufe begründet also ein
sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren
sind. Dennoch ist die Taufe nur ein Anfang und Ausgangspunkt, da sie ihrem
ganzen Wesen nach hinzielt auf die Erlangung der Fülle des Lebens
in Christus. Daher ist die Taufe hingeordnet auf das vollständige
Bekenntnis des Glaubens, auf die völlige Eingliederung in die Heilsveranstaltung,
wie Christus sie gewollt hat, schließlich auf die vollständige
Einfügung in die eucharistische Gemeinschaft. Obgleich bei den von
uns getrennten Kirchlichen Gemeinschaften die aus der Taufe hervorgehende
volle Einheit mit uns fehlt und obgleich sie nach unserem Glauben vor allem
wegen des Fehlens des Weihesakramentes die ursprüngliche und vollständige
Wirklichkeit (substantia) des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt
haben, bekennen sie doch bei der Gedächtnisfeier des Todes und der
Auferstehung des Herrn im Heiligen Abendmahl, daß hier die lebendige
Gemeinschaft mit Christus bezeichnet werde, und sie erwarten seine glorreiche
Wiederkunft. Deshalb sind die Lehre vom Abendmahl des Herrn, von den übrigen
Sakramenten, von der Liturgie und von den Dienstämtern der Kirche
notwendig Gegenstand des Dialogs.
23. Das christliche Leben dieser Brüder wird genährt durch den Glauben an Christus, gefördert
durch die Gnade der Taufe und das Hören des Wortes Gottes. Dies zeigt
sich im privaten Gebet, in der biblischen Betrachtung, im christlichen
Familienleben und im Gottesdienst der zum Lob Gottes versammelten Gemeinde.
Übrigens enthält ihr Gottesdienst nicht selten deutlich hervortretende
Elemente der alten gemeinsamen Liturgie. Der Christusglaube zeitigt seine
Früchte in Lobpreis und Danksagung für die von Gott empfangenen
Wohltaten; hinzu kommt ein lebendiges Gerechtigkeitsgefühl und eine
aufrichtige Nächstenliebe. Dieser werktätige Glaube hat auch
viele Einrichtungen zur Behebung der geistlichen und leiblichen Not, zur
Förderung der Jugenderziehung, zur Schaffung menschenwürdiger
Verhältnisse im sozialen Leben und zur allgemeinen Festigung des Friedens
hervorgebracht. Wenn auch viele Christen das Evangelium auf dem Gebiet
der Moral weder stets in der gleichen Weise auslegen wie die Katholiken
noch in den sehr schwierigen Fragen der heutigen Gesellschaft zu denselben
Lösungen wie sie gelangen, so wollen sie doch ebenso wie wir an dem
Worte Christi als der Quelle christlicher Tugend festhalten und dem Gebot
des Apostels folgen, der da sagt: "Alles, was immer ihr tut in Wort oder
Werk, tut alles im Namen unseres Herrn Jesus Christus, und danket durch
ihn Gott dem Vater" (Kol 3,17). Von da her kann der ökumenische Dialog
über die Anwendung des Evangeliums auf dem Bereich der Sittlichkeit
seinen Ausgang nehmen.
24. Nach dieser kurzen DarIegung der Bedingungen für die praktische Durchführung der ökumenischen
Arbeit und der Prinzipien, nach denen sie auszurichten ist, richten wir
unsern Blick vertrauensvoll auf die Zukunft. Das Heilige Konzil mahnt die
Gläubigen, jede Leichtfertigkeit wie auch jeden unklugen Eifer zu
meiden, die dem wahren Fortschritt der Einheit nur schaden können,
Ihre ökumenische Betätigung muß ganz und echt katholisch
sein, das heißt in Treue zur Wahrheit, die wir von den Aposteln und
den Vätern empfangen haben, und in Übereinstimmung mit dem Glauben,
den die katholische Kirche immer bekannt hat, zugleich aber auch im Streben
nach jener Fülle, die sein Leib nach dem Willen des Herrn im Ablauf
der Zeit gewinnen soll. Das Heilige Konzil wünscht dringend, daß
alles, was die Söhne der katholischen Kirche ins Werk setzen, in Verbindung
mit den Unternehmungen der getrennten Brüder fortschreitet, ohne den
Wegen der Vorsehung irgendein Hindernis in den Weg zu legen und ohne den
künftigen Anregungen des Heiligen Geistes vorzugreifen. Darüber
hinaus erklärt es seine Überzeugung, daß dieses heilige
Anliegen der Wiederversöhnung aller Christen in der Einheit der einen
und einzigen Kirche Christi die menschlichen Kräfte und Fähigkeiten
übersteigt. Darum setzt es seine Hoffnung gänzlich auf das Gebet
Christi für die Kirche, auf die Liebe des Vaters zu uns und auf die
Kraft des Heiligen Geistes. "Die Hoffnung aber wird nicht zuschanden: Denn
die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist,
der uns geschenkt ist" (Röm 5,5).
Anmerkungen:
1 Vgl. 1 Kor 1,13.
2 Vgl. 1 Joh 4,9; Kol 1,18-20; Joh 11,52.
3 Vgl. Joh 13,34.
4 Vgl. Joh 16,7.
5 Vgl. 1 Kor 12,4-11.
6 Vgl. Mt 28,18-20 in Verbindung
mit Joh 20,21-23.
7 Vgl. Mt 16,19 in Verbindung mit
Mt 18,18.
8 Vgl. Lk 22,32.
9 Vgl. Joh 21,15-17.
10 Vgl. Eph 2,20.
11 Vgl. 1 Petr 2,25; I. Vatikanisches
Konzil, Sessio IV (1870), Constitutio Pastor Æternus: Coll. Lac.
7, 482a.
12 Vgl. Jes 11,10-12.
13 Vgl. Eph 2,17-18, in Verbindung
mit Mk 16,15.
14 Vgl. 1 Petr 1,3-9.
15 Vgl. 1 Kor 11,18-19; Gal 1,6-9;
1 Joh 2,18-19.
16 Vgl. 1 Kor 1,11ff; 11,22.
17 Vgl. Konzil v. Florenz, Sess.
VIII (1439), Dekret Exsultate Deo: Mansi 31, 1055 A.
18 Vgl. Augustinus, In Ps. 32, Enarratio
II, 29: PL 36, 299.
19 Vgl. IV. Laterankonzil (1215),
Constitutio IV: Mansi 22, 990; II. Konzil v. Lyon (1274), Professio Fidei
Michælis Palæologi: Mansi 24, 71 E; Konzil v. Florenz, Sessio
VI (1439), Definitio Lætentur cæli: Mansi 31, 1026 E.
20 Vgl. Jak 1,4; Röm 12,1-2.
21 Vgl. 2 Kor 4,10; Phil 2,5-8.
22 Vgl. Eph 5,27.
23 Vgl. V. Laterankonzil, Sessio
XII (1517), Constitutio Constituti: Mansi 32,988 B-C.
24 Vgl. Eph 4,23.
25 Vgl. Eph 3,8.
26 Vgl. Johannes Chrysostomus, In
Ioannem Homelia XLVI: PG 59,260-262.
27 Vgl. Konzil v. Florenz, Sessio
VI (1439), Definitio Lætentur cæli: Mansi 31,1026 E.
28 Vgl. Röm 6,4.