Verstümmelung
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1661-1664


I. V. (mutilatio) nennt man die Entfernung od. Zerstörung eines Körperorganes od. die Unterdrückung seiner Funktion. Als Folge davon ist der Organismus nicht mehr vollständig od. hat er nicht mehr alle seine Funktionen. Wenn der Mensch einen solchen Eingriff an sich selbst vornimmt, spricht man von Selbst-V.; ihr ist unter sittl. Gesichtspunkt jene V. gleichzuhalten, die jemand anordnend od. zustimmend an sich vornehmen läßt.


II. Das sittl. Urteil über die V. Schuldloser hängt davon ab, wie weit das Verfügungsrecht des Menschen über den eigenen Leib u. über den des Mitmenschen geht.


1. Die Hl. Schrift spricht dem Menschen ein Herrschaftsrecht über Erde, die Pflanzen u. die Tiere zu (Gen 1,28-30); sie sind für ihn da, u. er darf sie um seiner selbst willen gebrauchen u. nach Bedarf verändern.

Daß in dieses Herrschaftsrecht nicht ein unumschränktes Recht des Menschen über sich selbst u. andere Menschen eingeschlossen ist, zeigt z.B. das Verbot der Tötung (Ex 20,13; 23,7). Der Grund dafür liegt in der Würde der menschl. Person. Jeder Mensch stellt im gesonderten, unmittelbaren, unvertauschbaren Besitz seiner geistig-leibl. Natur eine Einmaligkeit dar; jeder hat zwar die Möglichkeit, frei gestaltend sich selbst u. andere zu verändern; jedem ist dabei aber aufgetragen, die Gegebenheiten des eigenen Seins u. die des Mitmenschen in ihrem Sinn zu achten. Auf die letzte Wurzel zurückgeführt heißt das: Der Mensch hat die Pflicht, sich u. seine Mitmenschen so zu sehen u. zu wollen u. zu lieben, wie Gott sie sieht u. will u. liebt u. damit das Ebenbild Gottes im Menschen (Gen 1,26; 9,6), das zur Vollendung gelangen soll, zu achten. Das gilt auch für die leibl. Gegebenheiten des Menschen, die ja niemals bloßer Körper sind, sondern immer zu Geist in Beziehung stehen. Das sittl. Grundgesetz, an das der Mensch hinsichtl. seiner Leiblichkeit gebunden ist, heißt daher: sie in ihrem Sein u. Tätigsein bestehen u. sich entfalten lassen (Pius XII., UG 2223 2263).


2. Das geht freil. den ganzen Menschen an. Die gesamtmenschl. Person soll bestehen u. sich entfalten können. Normalerweise liegt das Vorhanden- u. Tätigsein des Teiles (des einzelnen Körperorgans) im Interesse des Ganzen; dann hat der Mensch die Pflicht, den Teil in seinem Bestand u. in seiner Tätigkeit zu erhalten. Oft jedoch droht dem Ganzen von einem Teil (einem Organ od. seiner Tätigkeit) schwere Gefahr; dann fordert das Interesse des Ganzen, daß der Teil dahin gegeben wird (Ganzheitsprinzip).


a) Somit darf man ein Organ entfernen od. seine Tätigkeit unterdrücken, wenn das Interesse des Ganzen es fordert (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.65 a.1). Dabei ist natürl. gewissenhaft zu fragen, ob das Verbleiben od. die Tätigkeit des Organs die Ganzheit wirkl. ernsthaft gefährdet, ob der Schaden nur durch den Eingriff vermieden od. wenigstens bedeutend vermindert werden kann u. ob die negativen Folgen des Eingriffes durch die positiven aufgewogen werden (Handlung mit zweierlei Wirkung).

Zulässig ist es, kranke od. abnormal funktionierende Organe zu entfernen od. stillzulegen, wenn sie den Gesamtorganismus gefährden. Aber auch gesunde Organe dürfen ausgeschaltet werden, wenn ihr richtiges Funktionieren dem ganzen Organismus schadet, weil dadurch eine anderswoher verursachte Krankheit gefördert wird (z.B. dürfen gesunde Ovarien entfernt werden, damit nicht ihre Hormonabsonderung die Entwicklung eines aufgetretenen Brustkrebses fördert).


b) Abzulehnen ist die V., wenn sie nicht im Interesse des Ganzen liegt. Der verstümmelnde Eingriff in den eigenen Leib verstößt dann gegen den gottgegebenen wesentl. Lebensauftrag u. damit gegen die in der Gottesliebe geborgene rechte Selbstliebe, jener in den fremden Leib gegen Gerechtigkeit u. Liebe zum Mitmenschen (Nächstenliebe). Verstümmelte sind häufig zum Dienst an der Gemeinschaft weniger taugl. od fallen ihr gar zur Last. Pius XI. (D 3723) u. Pius XII. (UG 2227 2263 2319) erklären diese V. für verwerfl. (vgl. 2. Vat. Konz., GS 27), das Kirchenrecht bezeichnet sie in schweren Fällen als Delikt (CICc. 985 n.5).


c) Im Lichte dieser Erwägungen sind Eingriffe wie Kastration u. sonstige Sterilisation, Organübertragung usw. zu beurteilen.


III. Für die grundsätzl. Zulässigkeit der V. von Verbrechern hat man ähnl. Gründe angeführt wie für die Todesstrafe (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.65 a.1). "Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß" (Dtn 19,21; vgl. Ex 21,24 f). Das Mittelalter war mit der Strafe der V. (der Ohren, der Hände, der Geschlechtsdrüsen, der Füße) rasch bei der Hand. Wenn Pius XI. u. Pius XII. allen Nachdruck auf die Verurteilung der V. Schuldloser legen (D 3720-22; UG 1138), bestreiten sie nicht, daß es sinnvoller u. dem Geist des Christentums entsprechender ist, auch an die Stelle der V. Schuldiger andere Strafen treten zu lassen.


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