Strafe
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1516-1522


1. Sie S. ist ihrer Natur nach ein physisches Übel, das wegen einer begangenen sittl. Verfehlung einem Menschen zugefügt wird; dieser erfährt für ein (moralisches) Übeltun ein (physisches) Übelleiden (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 1,2 q.46 a.6 ad 2; Pius XII., UG 4565).

S. setzt Schuld (formale Sünde) voraus. Schuldig wird der Mensch, wenn er sich gegen verpflichtende Normen (u. gegen die durch sie geschützten Werte) in Freiheit entscheidet. Wo ein Mensch Normen u. Werte nicht schuldhaft verletzt, mögen Schutzmaßnahmen gegen ihn angebracht sein; er darf jedoch nicht bestraft werden.


2. Auf die Frage nach dem Zweck der S. stellt man heute gern Abschreckung, Sicherung u. Besserung in den Vordergrund. Man tut dies nicht ohne Berechtigung. Jedoch sollte man nicht übersehen, daß von jedem dieser Zwecke her Gefahren drohen, wenn sie einseitig verfolgt werden. Wenn sich der Strafende nur vom Zweck der Abschreckung (anderer u. des Übeltäters selbst für die Zukunft; General- u. Spezialprävention) od. vom Zweck der Sicherung der Gemeinschaft leiten läßt, gelangt er dazu, daß er die S. nicht nach der Schuld des Übeltäters, sondern eben nur nach ihrer Eignung zu Abschreckung u. Sicherung, also möglichst drastisch, bemißt; es kommt zu jenen Ungerechtigkeiten u. Grausamkeiten, die für Diktaturen kennzeichnend sind u. die den Übeltäter selbst verbittern u. verrohen. Auch die alleinige Berücksichtigung des Zweckes der Besserung (Resozialisierung in diesem Sinn) führt zu merkwürdigen Ergebnissen: Reuige Übeltäter dürfen nicht bestraft werden, weil sie die Besserungs-S. nicht mehr brauchen; aber auch bei verstockten müßte die S. als sinnlos unterlassen werden.

Abschreckung, Sicherung u. Besserung sind als Strafzwecke durchaus anzuerkennen, müssen aber, sollen Fehlentwicklungen vermieden werden, auf einer wesentl. Voraussetzung aufbauen: Beim Erstreben dieser Zwecke darf die Gerechtigkeit nicht verletzt werden (vgl. Sir 33,38). Gerechtigkeit im Strafen aber heißt, daß die S. der Schuld des Übeltäters angemessen wird, also der mehr od. minder beträchtl. Störung der sittl. Ordnung u. dem personalen Einsatz des Übeltäters (vgl. CICc. 2199).

Wenn man Gerechtigkeit fordert, anerkennt man zugleich, daß die S. ein Gegengewicht zur Übeltat schaffen u. daß durch sie die sittl. Ordnung in etwa wiederhergestellt werden soll. So erscheint es nicht als unberechtigt, die Wiederherstellung der sittl. Ordnung als Wesenszweck der S. zu bezeichnen; in diesem Sinn sprechen kirchl. Lehräußerungen des öfteren vom Sühnezweck der S. u. meinen damit nicht bloß Vergeltung od. gar Rache für vergangene Schuld, sondern die Erreichung eines besseren Zustandes für die Zukunft. Auf die Frage, warum die gestörte sittl. Ordnung wiederhergestellt werden soll, kann man antworten, daß dadurch die Geltung der sittl. Ordnung bei den Menschen gesichert wird, jener sittl. Ordnung, die nicht eine selbständige Größe ist, sondern im Dienst des Menschen steht. Voll wird diese Forderung freil. nur begreifen, wer hinter der sittl. Ordnung den Willen Gottes als den Begründer u. Träger sieht, letztl. den liebenden Willen Gottes (vgl. Pius XII., UG 479 4556 4618 4702-05).

Die zuerst genannten Strafzwecke werden durch das Bedachtsein auf Gerechtigkeit keineswegs beeinträchtigt; im Gegenteil, die Hochachtung vor der sittl. Ordnung, die dadurch gefördert wird, dient der besseren Erreichung auch dieser Zwecke (vgl. Pius XII., UG 480). Gerechtigkeit darf ja nicht unter Vernachlässigung der Zwecke der Abschreckung, der Sicherung u. der Besserung gesucht werden, sondern nur zus. mit ihnen (vgl. die Verbindung der Zwecke Sühne u. Besserung im Kirchenrecht, CICc. 2215). In der kath. Lehre sucht man meistens die Lösung in einem Pluralismus u. einer Kombination der Strafzwecke.


3. Zum Strafen sind alle befugt, die rechtmäßige Leitungsgewalt über andere besitzen u. damit für deren Verhalten Verantwortung tragen. Freil. unterscheiden sich die Gemeinschaften, in denen es Leitungsgewalt gibt, in ihrem Charakter beträchtl. voneinander. So sehen die S.n der Kirche anders aus als die des Staates, die S.n der freien Gemeinschaften anders als die der Familie (zur kirchl. Strafgewalt vgl. 1 Kor 5,3-5; 2 Kor 2,6; 1 Tim 1,20; D 945 2604 f 2894 2924).

Bes. wichtig scheint die Strafbefugnis des Staates zu sein. Wenn dieser auch nicht für sämtl. Interessen der in ihm lebenden Gesellschaft zuständig ist, so doch für einen wichtigen Bereich, den man häufig als öffentl. Ordnung bezeichnet. Es muß ihm daranliegen, daß die damit gemeinten Grundlinien des gesellschaftl. Zusammenlebens von der Bevölkerung nicht nur unter äußerem Zwang, sondern aus dem Bewußtsein der inneren Verpflichtung eingehalten werden. Allerdings würde er sich übernehmen u. würde man ihn überfordern, wollte er für sich in Anspruch nehmen od. wollte man ihn darauf verpflichten, das sittl. richtige Verhalten seiner Bürger in allem und jedem zu sichern. Er kann u. muß sich vielmehr gemäß seiner Aufgabe darauf beschränken, seine Bürger wirksam zur Einhaltung jener grundlegenden Regeln des Zusammenlebens zu führen, die unter den Begriff der öffentl. Ordnung fallen. Selbst wenn Paulus die staatl. Obrigkeit im Tragen des Schwertes, das die Bösen zu fürchten haben, als "Dienerin Gottes, Rächerin zum Zorn für den, der Böses tut", bezeichnet (Röm 13,4), darf man nicht kurzschlüssig daraus folgern, der Staat habe alles zu bestrafen, was vor Gott strafwürdig ist. Gott straft durch innere Sanktionen: Er läßt es zu, daß die naturgemäßen Folgen des schlechten Handelns eintreten. Der Staat verwendet äußere Sanktionen, Folgen, die sich nicht schon aus der Natur des unzulässigen Verhaltens ergeben, sondern positiv hinzugefügt werden, u. er ist dazu befugt, soweit es im Hinblick auf die öffentl. Ordnung kriminalpolitisch als geboten erscheint; wo die Grenzen verlaufen, ist nicht selten umstritten (in den letzten Jahrzehnten heftige strafrechtl. Diskussionen über Abtreibung, Homosexualität, Pornographie usw. in verschiedenen Ländern). Von der Hl. Schrift her scheint der Staat recht zu handeln, wenn er sich im Rahmen des für die öffentl. Ordnung Notwendigen der S. bedient (vgl. Röm 13,3 f; 1 Petr 2,13 f).

Die öffentl. Ordnung läßt sich nicht ohne Einhaltung von Grundlinien der sittl. Ordnung erreichen. Wenn durch die S. in der Bevölkerung die Überzeugung gefestigt wird, daß diese Grundlinien auf jeden Fall in Geltung bleiben, entweder durch freiwillige Einhaltung von Seiten der Bewohner des Staates od. durch Bestrafung nach Übertretung, stellt sich die S. als nützl. Mittel für den Gemeinwohlbereich "öffentl. Ordnung" heraus; würde ohne S. diese Überzeugung nicht genügend erreicht, so ist S. sogar ein notwendiges Mittel, auf das der Staat nicht verzichten darf, will er seiner Aufgabe nicht untreu werden. Wenn die S. dieser Bewußtseinsbildung dient, hilft sie in grundlegender Weise auch zur Generalprävention, zur Abhaltung der Menschen von Gesetzesübertretungen, mit; in einer weniger tiefen, wenn auch vielleicht noch wirksamen Weise tut sie das, wenn sie Menschen von Übeltaten, die sie ohne Strafandrohung begangen hätten, abschreckt. Wenn ein Teil der Menschen nur dadurch von der Verletzung der für die Gesellschaft bedeutsamen Normen u. Werte abgehalten werden kann, erweist sich die S. als notwendiges Mittel, auf das der Staat nicht einfach verzichten kann. Ferner muß der Staat überlegen, wie er die Bevölkerung vor einer Wiederholung von Übeltaten durch jene, die sie schon begangen haben, schützen kann; auch im Hinblick auf diese Spezialprävention kann die S. eine wichtige Rolle spielen. Endl. muß dem Staat an der Besserung der Übeltäter, an ihrer Resozialisation im Sinn ihres Ablassens von gemeinwohlschädigendem Verhalten, viel gelegen sein; soweit ihm die S. dazu hilft, darf er sie heranziehen, ja muß er es vielleicht tun. Allerdings muß er dann auch den Strafvollzug entsprechend gestalten u. muß er dazu mithelfen, daß die Gesellschaft die Gebesserten wieder annimmt (Resozialisierung auch in diesem Sinn).


4. Der zum Strafen Befugte hat die Pflicht der Gerechtigkeit: Er darf nicht strenger strafen, als es der Schuld entspricht (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.63 a.4).

Wer strenger straft, handelt ungerecht. Sein übelwollendes Verhalten widerspricht grundlegend der gebotenen Nächstenliebe.

Diese drängt eher dazu, Milde walten zu lassen, d.h. dem Übeltäter nicht mehr S. zuzufügen, als unbedingt notwendig ist (vgl. Pius XII., UG 4619). Gerechtigkeit ist nur das Mindestmaß der Liebe; diese geht über die Gerechtigkeit hinaus.

Allerdings kann nicht jede Art von Milde gutgeheißen werden. Man muß vielmehr fragen, ob der zum Strafen Befugte, ja Verpflichtete im gegebenen Fall mehr durch strenge Gerechtigkeit od. mehr durch Milde im Sinn der ihm aufgetragenen Liebe handelt. Milde könnte am unrichtigen Platz geübt werden, näml. dort, wo zur Besserung des Übeltäters u. im Interesse der Gemeinschaft Strenge notwendig wäre. Solche Milde wird am Hohenpriester Heli gerügt (1 Sam 3,13; vgl. Spr 19,18). Augustinus sagt treffend, daß es eine strafende Barmherzigkeit u. eine schonende Strenge gibt (Eph. 153,5; PL 33,660 f).

Wo Milde verantwortet werden kann, drängt die christl. Nächstenliebe zu ihr. Der Mensch folgt damit den Wegen Gottes, der sich dem sündigen Menschen gegenüber nicht nur als gerecht Strafender (Vertreibung aus dem Paradies, Sintflut, Untergang von Sodom u. Gomorra, Zerstörung Jerusalems), sondern auch als Milder (wiederholt in der Heilsgeschichte) erweist. Das AT preist oftmals die Milde u. Barmherzigkeit des Bundesgottes (vgl. Ps 85 [86],5; Joel 2,13; Neh 9,31). Das NT ist geradezu der Bund der Gnade (vgl. Hebr 4,16).

Die kirchl. Rechtsprechung soll Gerechtigkeit mit Milde vereinen (Konzil. v. Trient, Sess. 13 De ref. c.1; CICc. 2214 §2); unter bestimmten Voraussetzungen darf der kirchl. Richter die vom Gesetz festgelegten S.n mildern od. ganz erlassen (c. 2223). Auch der weltl. Richter, der die Gesetze anwenden muß, hat manchmal in ihrer Auslegung eine gewisse Freiheit u. kann Milderungsgründe berücksichtigen. Gnadenbefugnisse stehen für Einzelfälle dem Staatsoberhaupt u. für Gruppen (allg. Amnestie) der gesetzgebenden Körperschaft zu. Doch darf bei solchen Akten der Milde die Rücksicht auf das Gemeinwohl nicht vernachlässigt werden. Im Sinn der wünschenswerten Milde liegt es, wenn man im Strafrecht vieler Länder von der körperl. Züchtigung abgekommen ist, mag sie auch früher (auch im AT, vgl. Spr 13,24; 22,15; 23,13; 29,15.21; Sir 30,1-13; 33,33-38; Hebr 12,7; Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.65 a.2) grundsätzl. verteidigt worden sein. Diese Milderung hat sogar in der Allg. Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, 10.12.1948, ihren Niederschlag gefunden: "Niemand darf der Folter od. grausamer, unmenschl. od. demütigender Behandlung od. Bestrafung ausgesetzt werden" (Art. 5).


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