Selbstliebe
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1417-1419


1. Der Mensch ist dazu bestimmt u. berufen, an der Liebe Gottes Anteil zu gewinnen, zum Mitliebenden mit Gott zu werden. Gott aber liebt seine Geschöpfe, auch jeden Menschen, wie bes. im Erlösungsgeschehen offenbar wird (1 Joh 3,16; 4,9 f.19). So gibt es eine zulässige, ja gebotene christl. S. (Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.26 a.4; D 2351-74; Pius XII., UG 2303 f), die in der göttl. Tugend der Liebe enthalten ist u. in der die berechtigte natürl. S. (vgl. Eph 5,29) ihre Erhöhung u. Vollendung findet. An dieser S. soll sich die christl. Nächstenliebe ausrichten (Lev 19,18; Mk 12,31; Hebr 13,3).


2. Wahre S. besteht in der Bejahung u. Verwirklichung des eigenen Selbst, wie es von Gott beabsichtigt u. geliebt wird.


a) Dieses wahre Selbst des Menschen ist das in übernatürl. Lebens- u. Liebeseinheit ausgeformte Bild Gottes, durch das Gott selbst verherrlicht wird. Alle natürl. Ansätze zu wahrer S. sind im übernatürl. Bild Gottes nicht verloren, jedoch in wesentl. höhere Zusammenhänge gebracht u. über sich hinaus erhoben.

Jedenfalls hat christl. S. ihren Ruhepunkt nicht in sich selbst, sondern in Gott. Zu ihm hin muß der Christ sich selbst überschreiten (sich selbst "hassen", vgl. Lk 14,26) u. in Teilnahme an seiner Liebe sich auch zum Mitmenschen hin überschreiten (Mt 5,44 f.48; Joh 13,34). Gerade dadurch kommt der Mensch wahrhaft zu sich selbst, daß seine Liebe "nicht den eigenen Vorteil sucht" (1 Kor 13,5; vgl. Phil 2,21). "Wer sein Leben liebt, verliert es, u. wer sein Leben in dieser Welt haßt, der wird es zum ewigen Leben bewahren" (Joh 12,25).

Der christl. sich selbst Liebende ist also auf die Erfüllung seiner gottgegebenen Bestimmung u. eben dadurch auf die Verwirklichung seines Gott verherrlichenden wahren Selbst, in dem sein wahres Gut besteht, bedacht.


b) Alle anderen Güter prüft u. verwendet er nach ihrer Bedeutung für dieses Streben. So tut er alles Nötige zur Erhaltung und Entfaltung seines Leibeslebens, sichert dafür die notwendigen materiellen Güter (Eigentum) u. die unentbehrl. gesellschaftl. Geltung (Ehre), weiß aber, daß das Leibesleben nicht der Güter höchstes ist, pflegt daher das geistige Leben (vgl. Bildung) mindestens so weit, wie es zur Erfüllung der eigentl. Aufgabe des menschl. Lebens, der Entfaltung zum übernatürl. Bild Gottes, notwendig ist.


3. Daraus ergibt sich, daß in der S. versagt, wer in der Verwendung u. der Verwirklichung der Güter u. Werte nicht die Rangordnung einhält, in der sie gemäß ihrer verschiedenen Bedeutung für seine wesentl. Bestimmung stehen sollen (vgl. Pflichtenkollision; Wert), also für die notwendigen Güter zu wenig sorgt (Trägheit) od. ihnen ungeordnet anhängt, näml. so, daß er den niederen verfällt u. die höheren, in deren Dienst sie stehen sollten, vernachlässigt, ja in letzter Auswirkung durch sie behindert wird, zum höchsten Wert zu kommen. Durch solche Nachlässigkeit od. Verzerrung (Selbstsucht, vgl. Phil 2,21; 2 Tim 3,2) wird der Mensch zum Feind seiner selbst ("Die aber sündigen u. Böses tun, sind Feinde ihres eigenen Lebens", Tob 12,10; vgl. Spr 8,36; 1 Tim 6,10) u. richtet sich zugrunde (Eph 4,22).


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