Geheimnis
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 559-565


G. (secretum) nennt man eine verborgene od. zu verbergende Sache od. ein solches Wissen (Erfindung od. Tatsache).


I. Das G. eines Menschen (des G.herrn) ist von seinen Mitmenschen zu achten.


1. Das Recht des Menschen darauf, daß sein G. gewahrt werde, gründet in der Bedeutung der Wahrung für sein Bestehen in der Gesellschaft u. für das Gemeinwohl. Eindringlich schildert die Hl. Schrift die nachteiligen Folgen des Verrates von G.sen für das Verhältnis der Menschen zueinander (Sir 27,16-21).


2. Die Pflicht der Achtung vor dem Recht des Menschen auf sein G. schließt in sich:


a) Man darf ein G. nicht ungerecht ausforschen. Wer es tut, vergreift sich an einer fremden Sache u. verletzt dadurch die (Verkehrs-)Gerechtigkeit. Auch die Klugheit fordert, daß man sich nicht zuviel mit den G.sen anderer belastet.


Wer etwa einem Erfinder sein G. entwendet, handelt ungerecht. Es ist jedoch niemandem verwehrt, eine Erfindung, die ein anderer gemacht u. noch nicht veröffentlicht hat, durch eigenes Bemühen auch zu machen.


Gegen die Narkoanalyse spricht außer anderen Gründen die Tatsache, daß sie häufig zu ungerechter G.ausforschung angewandt wird. Daß man auch in der Psychoanalyse aus dem Analysanden nicht G.se herausholen darf, die dieser zu wahren hat, ist wohl klar (vgl. Pius XII., UG 2305 f 5414).


b) Falls man ein fremdes G. erfahren hat, darf man es nicht offenbaren, wenn nicht ein Grund, der stärker ist als die Gründe für die Geheimhaltung, zur Offenbarung drängt (Pflichtenkollision). Der das G. unberechtigt Offenbarende verfehlt sich gegen Gerechtigkeit u. Nächstenliebe (wenn er die Geheimhaltung versprochen hat, auch gegen die Treue).


Wer zur Wahrung eines G.ses verpflichtet ist, darf sich nicht einer Behandlung aussetzen, die das G. aus ihm herausholen würde (bezügl. der Psychoanalyse vgl. Pius XII., UG 2305 f). Der Urheber eines Werkes (Buch, Kunstwerk, technisches Verfahren, Heilmittel usw.) hat ein Recht auf sein G. bis zur Veröffentlichung. In den meisten Staaten wird ihm das Recht auf Verbreitung auch nach der Veröffentlichung durch eine Reihe von Jahren vorbehalten.


c) Endl. darf man ein zu Unrecht erworbenes G. nicht benützen, weil man dadurch das Unrecht fortsetzen würde. Sittl. einwandfrei erworbene G.se darf man im allg. zu eigenem u. fremdem Vorteil ausnützen (wenn z.B. ein Erfinder sein Werk veröffentlicht, stellt er damit dessen Gebrauch allen frei). Beim anvertrauten G. kann es jedoch sein, daß der G.herr mit seiner Mitteilung dem Hörer nicht das Recht der Benützung geben will.


3. Die Schwere der Bindung durch ein G. hängt nicht nur von der Wichtigkeit des Gegenstandes, sondern auch vom Grund der Verpflichtung ab.


a) Beim natürl. G. (secr. naturale) entspringt die Pflicht der Geheimhaltung nur aus der Natur der Sache, näml. daraus, daß das G., das jemand auf irgend eine Art erfahren hat, nicht ohne berechtigten Unwillen des G.herrn geoffenbart werden kann. Die von Gerechtigkeit u. Nächstenliebe auferlegte Schweigepflicht hängt in ihrer Schwere von der Wichtigkeit der Sache ab. Nur aus einem berechtigten Interesse, das in gewissenhafter Abschätzung das Interesse des G.herrn an der Geheimhaltung überwiegt, darf man über das G. reden.


b) Ein versprochenes G. (secr. promissum) liegt vor, wenn man ein G. des Nächsten erfährt u. nachträgl. verspricht, darüber zu schweigen. Aus Treue muß man das Versprechen halten. Falls schon eine natürl. Schweigepflicht bestand, wird sie durch das Versprechen verstärkt. Für ihre Schwere kommt es wieder hauptsächl. auf die Wichtigkeit der geheimen Sache an. Das versprochene G. darf preisgegeben werden, wenn ein stärkerer Grund als der die Geheimhaltung fordernde für die Offenbarung spricht, bes. dann, wenn man das Schweigen hätte gar nicht versprechen dürfen (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.110 a.3 ad 5).


c) Vom anvertrauten G. (secr. commissum) spricht man, wenn jemand eine ihm bisher unbekannte Sache von einem anderen nur unter der Bedingung der Geheimhaltung erfährt. Beide schließen damit einen Vertrag: Der G.herr übergibt sein G. dem Hörer unter genau festgelegter Bedingung. Zw. Privaten kommt diese Art des G.ses nur durch ausdrückl. Abmachung zustande. Wenn jedoch Personen von Amts od. Berufs wegen G.se entgegennehmen (Beamte, Ärzte, Hebammen, Rechtsanwälte, Priester u.a.), wird mit Recht vorausgesetzt, daß sie sich schon mit Antritt ihres Amtes od. Berufes zum Schweigen über diese G.se verpflichten. Die schärfste Verpflichtung legt das sakramentale Beicht-G. auf (vgl. Bußsakrament). Als vertragl. Pflicht fällt die Schweigepflicht beim anvertrauten G. in den Bereich der Verkehrsgerechtigkeit: Beide Teile haben eine Last übernommen, die sie nicht einseitig ablegen dürfen; außerdem liegt die Geheimhaltung häufig im Interesse des Gemeinwohles (z.B. beim Berufs-G. des Arztes od. des Beamten). Das Beicht-G. u. das geistl. Amts-G. sind vielfach in Konkordaten (Deutsches Reichskonkordat 1933 Art. 9; Österr. Konkordat 1933 Art. 18) u. in staatl. Gesetzen geschützt.


Die Schwere der Schweigepflicht hängt auch beim anvertrauten G. von der Wichtigkeit des Gegenstandes ab. Bei manchen Arten ist freil. zu beachten, daß durch Nichteinhaltung ein Schaden über den des G.herrn hinaus zu befürchten ist, z.B. die Zerstörung des Vertrauens zum Amtsträger. Aus diesem Grund verpflichtet z.B. das Beicht-G. immer schwer.


Auch das anvertraute G. darf geoffenbart werden, 1. wenn der Anvertrauende es erlaubt od. wenn seine Zustimmung mit Recht vorausgesetzt werden kann, 2. wenn der Wissende die Sache auch aus anderer Quelle erfahren hat (in diesem Fall kann für ihn aber die natürl. Schweigepflicht bestehen), 3. wenn in gewissenhafter Prüfung stärkere Gründe zum Reden als zum Schweigen drängen.


Diese stärkeren Gründe können vom Gemeinwohl hergeleitet sein. Da die G.pflicht zum Gutteil der Rücksicht auf das Gemeinwohl entstammt, hört sie auf, wenn mit der Enthüllung dem Gemeinwohl, bes. der Gesundheits- od. der Rechtspflege, besser gedient würde (vgl. Pius XII.; UG 2244 2385). Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, daß die Gründe zum Reden in einem zu Recht bestehenden stärkeren Interesse dessen, dem das G. anvertraut wurde, dritter Personen, ja auch des G.herrn selbst liegen.


II. Eine Art des schutzwürdigen G.ses ist das Brief-G. (vgl. Allg. Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, 10.12.1948, Art. 12; Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte u. Grundfreiheiten, 4.11.1950, Art. 8).


a) Das Recht auf das G. verletzt, wer unbefugt fremde Briefe, die gut verwahrt sind, liest od. verschlossene öffnet. Die Schwere der Verfehlung richtet sich nach der (vermuteten) Bedeutung des Inhaltes. Wenn der Absender od. der Empfänger des Briefes durch sein Verhalten zeigt, daß ihm an der Geheimhaltung des Inhaltes nichts liegt (wenn er z.B. den Brief sorglos offen liegen läßt od. ihn gar wegwirft), geschieht ihm durch einen anderen, der den Brief liest, zumindest kein schweres Unrecht. Wenn jedoch dem Absender od. dem Empfänger durch das Bekanntwerden des Briefinhaltes Schaden droht, tritt für den Leser die natürl. G.pflicht ein.


b) Gegen das Öffnen u. Lesen fremder Briefe ist nichts einzuwenden, wenn der Schreiber od. der Empfänger dazu die Erlaubnis gibt. Dies kann auch durch freie Unterordnung unter eine Regel geschehen, die dem Vorgesetzten einer Gemeinschaft diese Befugnis einräumt. Wenn Ordensobere ein solches Recht haben, dürfen sie nicht den freien Briefverkehr zw. ihren Untergebenen u. den höheren Oberen behindern u. sind sie verpflichtet, Gewissens-G.se ihrer Untergebenen u. derer, die an sie schreiben, zu achten.


Zur Abwendung höchster Gefahr (etwa zur Aufdeckung von Verbrechen) können auch sonst hie u. da das Öffnen u. Lesen fremder Briefe zulässig sein. Die Briefzensur durch den Staat kann man zwar nicht unter allen Umständen ablehnen; je weniger aber diese heikle Maßnahme notwendig wird, umso besser.


III. Zur berechtigten od. gar pflichtgemäßen Wahrung von G.sen bieten sich verschiedene Möglichkeiten an.


1. Am besten ist die Verhütung von Situationen, in denen der G.schutz schwer fällt. Jeder kann durch Vermeidung von Dingen, deren Offenbarung ihm unangenehm od. nachteilig wäre, dazu beitragen. Der Hüter von G.sen kann seine Umgebung in einem gewissen Grad zur Unterlassung indiskreter Fragen erziehen.


2. Manchen zudringl. Fragern gegenüber kann man sich mit Schweigen od. mit ausdrückl. Verweigerung der Antwort helfen. Da es kein allg. Recht des Menschen auf das Wissen seines Mitmenschen gibt, sündigt niemand, der einem nicht in besonderer Weise berechtigten Frager die Auskunft verweigert. Schon gar nicht sündigt man durch Zurückhalten eines Wissens, um das man nicht gefragt wird, wenn nicht ein besonderer Grund zum Reden drängt. Schweigen od. Verweigern der Antwort reicht aber nicht immer zur Wahrung des G.ses aus, da es dem Frager manchmal schon die gewünschte Antwort gibt.


3. Das einfach scheinende Mittel der Notlüge kann nicht zulässig sein, da die Lüge ihrem Wesen nach schlecht ist.


4. Ebenso darf der Weg des eigentl. geheimen Vorbehaltes nicht gegangen werden, da er nichts anderes ist als Lüge, wohl aber der Weg des uneigentl. geheimen Vorbehaltes, der zur mehrdeutigen Rede zählt. Diese darf als Mittel des berechtigten G.schutzes angewandt werden.


IV. Zur Auskunftverweigerung durch Gebrauch der mehrdeutigen Rede ist der Mensch verpflichtet, wenn er ein G. hüten muß u. es auf andere erlaubte Art nicht kann. Dort aber, wo er nur für sich selbst zu fürchten hat, ist er häufig nicht behindert, alle Bedenken beiseite zu schieben, auf die berechtigte Verwendung mehrdeutiger Rede zu verzichten u. offen die Wahrheit zu gestehen. Unter Umständen kann das Geständnis zur Pflicht werden, näml. dann, wenn der Hüter des G.ses durch weiteres Verweigern der Auskunft seine eigene Lage od. die anderer nur verschlimmern würde. Auch dort, wo zur Wahrung des G.ses kein erlaubtes Mittel zur Verfügung steht, bleibt nichts anderes übrig als das Geständnis der Wahrheit.


Eine eindeutige Bekenntnispflicht besteht hinsichtl. des Glaubens, wenn das Schweigen, Zögern od. sonstige entgegengesetzte Verhalten den Eindruck des Nichtglaubens erweckt.


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