Wahrhaftigkeit
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1693-1699


I. W. ist eine Art der Wahrheit.


1. Wahrheit (veritas) im allg. bedeutet Übereinstimmung einer Sache mit ihrem Maß (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.109 a.1), näml. Übereinstimmung a) des Dinges mit der in einem Verstand (vor allem in dem seines Urhebers) vorhandenen Idee von ihm (ontologische Wahrheit; vgl. Thomas v. A., S.Th. 1 q.16 a.1; q.21 a.2) od. b) der Verstandeserkenntnis mit dem erkannten Ding (logische Wahrheit; vgl. Thomas v. A., S.Th. 1 q.16 a.1) od. c) des Ausdruckes mit der Erkenntnis (moralische Wahrheit = W., veracitas; vgl. Thomas v. A., S.Th. 1 q.21 a.2 ad 2; 2,2 q.109 a.1). Während das Griechische für Wahrheit u. W. nur den einen Ausdruck Aletheia (= Unverborgenheit) hatte, schied das Lateinische beide Arten besser voneinander.


2. W. besteht also in der Übereinstimmung von Ausdruck u. Überzeugung, W. als Tugend in der dauernden Bereitschaft, diese Übereinstimmung herzustellen.


a) Wegen der Übereinstimmung kann der Wahrhaftige einfach genannt werden (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.111 a.3 ad 2); sein Gegenstück ist der Zwiespältige (vgl. ebd. q.109 a.3 ad 2).


b) Mit der Gerechtigkeit hat die W. zwar eine gewisse Ähnlichkeit (beide regeln das Verhalten des Menschen zum Mitmenschen u. beide wollen eine Gleichheit herstellen, die W. zw. Überzeugung u. Ausdruck, die Gerechtigkeit zw. Schuldigkeit u. Leistung). Die Gerechtigkeit hat aber ein eigentl. Recht im Auge (etwas, worauf der Mensch wegen der Notwendigkeit für sein Bestehen u. seine Selbstverwirklichung einen strengen Anspruch hat). Zur W. ist der Mensch nicht desh. verpflichtet, weil auf sein Wissen jeder Mitmensch ein strenges Recht geltend machen könnte. Man hat zwar von einem Menschenrecht gesprochen, die Welt der Sachverhalte erkennend zu erobern; doch folgt für das Verhalten von Mensch zu Mensch im allg. daraus kaum mehr als die Pflicht der Nichtbehinderung, nicht aber der positiven Mitteilung. W. fällt nicht im strengen Sinn unter die Gerechtigkeit, sondern ist ihr nur ähnl. (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.109 a.3).


c) Einen Sonderfall der W. stellt die Offenheit dar. Wahrhaftig ist, wer dann, wenn er spricht, das ausdrückt, wovon er überzeugt ist. Wenn er überhaupt nicht spricht, hört er nicht auf, wahrhaftig zu sein. Offen jedoch ist, wer mit seiner Überzeugung nicht zurückhält.


II. W. ist pflichtgemäß zu verwirklichender sittl. Wert.


1. Als wertvoll wird sie durch natürl. sittl. Erkenntnis erfaßt.


a) W. ist für das menschl. Zusammenleben notwendig, weckt sie doch das Vertrauen der Menschen zueinander u. gibt ihnen so den Rückhalt in der Gemeinschaft, dessen sie zu ihrem Bestehen u. zu ihrer Selbstverwirklichung bedürfen.

Ferner hilft der wahrhaftige Mensch seinem Mitmenschen, das richtige Bild von der Wirklichkeit zu gewinnen, der gemäß jeder seine Persönlichkeit entfalten soll.

So begründet Augustinus seine Verwerfung der Lüge auch mit dem Hinweis auf den Sinn der Sprache: "Und doch haben wir fürwahr die Sprache nicht zu dem Zweck, damit sich die Menschen gegenseitig irreführen, sondern damit einer dem anderen seine Gedanken mitteilen kann" (Ench. 7,22; PL 40,243). Thomas v. Aq. drückt denselben Gedanken noch schärfer aus: "Da näml. die Worte natürlicherweise Zeichen für die Gedanken sind, ist es unnatürl. u. ungehörig, mit dem Wort etwas auszudrücken, was man nicht im Sinn hat" (S.Th. 2,2 q.110 a.3). Dieser Gedanke gehört zum ständigen Rüstzeug in der Behandlung der Frage W. u. Lüge.

Der Wahrhaftige dient somit dem menschl. Zusammenleben u. übt so die Nächstenliebe. Die soziale Rücksicht könnte allerdings manchmal zur Unwahrhaftigkeit verleiten, näml. dann, wenn dem Menschen durch Vorenthaltung der Wahrheit besser gedient zu sein scheint als durch ihr Eingeständnis. Wie jedoch die Erfahrung zeigt, stellt sich ein solches Vorgehen oft genug als kurzsichtig heraus. Außerdem taucht die Frage auf, ob man nicht einen zu hohen Preis zahlt, wenn man Reibungen durch Drangabe der W. vermeidet (fauler Kompromiß).


b) Die sicherste Begründung der W. scheint nicht in ihrem sozialen, sondern in ihrem personalen Wert zu liegen: Der Mensch hat sich selbst, seine Seinswahrheit zu verwirklichen, u. die ist nicht voll verwirklicht, wenn er sich außen anders gibt, als er innen ist.


2. Die Offenbarung zeigt die W. als hohen Wert.


a) Das AT verlangt W. meistens in Form der Verwerfung der Lüge, vor allem bei Gericht, aber auch im Privatverkehr. "Saget die Wahrheit untereinander!" (Sach 8,16). "Ein Greuel für Jahwe sind Lippen der Lüge; doch haben sein Wohlgefallen, die Redliches tun" (Spr 12,22).

Im NT mahnt Jesus: "Vielmehr soll euere Rede (so) sein: Ja (sei) Ja, Nein (sei) Nein; was darüber hinausgeht, ist vom Bösen" (Mt 5,37; vgl. Jak 5,12); derart wahrhaftige Rede soll dazu führen, daß der Eid überflüssig wird. Nathanael erhält von Jesus hohes Lob: "Siehe, ein wahrer Israelit, an dem kein Falsch ist" (Joh 1,47).


b) Die Hl. Schrift begründet die W.sforderung tiefer.

Den Jüngern, die Jesus zum ersten Mal als seine Boten in die Gefahren der Welt sendet, gibt er eine merkwürdige Weisung mit: "Seht, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Seid also klug wie die Schlangen u. ohne Falsch wie die Tauben" (Mt 10,16). Bei aller Notwendigkeit höchster Klugheit erlaubt Jesus den Seinen nicht, den Einklang ihrer Persönlichkeit aufzugeben (akèraios = unversehrt, auch im übertragenen Sinn von sittl. Unversehrtheit, Ganzheit, Unschuld; ohne Falsch). In dieser unangebrochenen Einheitlichkeit liegt der personale Wert der W.; wahre Selbstliebe drängt den Menschen zu seiner Vollverwirklichung.

Für diese Einheit von Innen u. Außen ist Gott selbst höchstes Vorbild ("Von meinem Mund geht Wahrheit aus", Jes 45,23). Das AT nennt ihn, bes. in den Psalmen, den wahren Gott nicht nur im ontologischen Sinn (den einzigen, der in Wahrheit Gott ist), sondern auch im sittl. Sinn (den Wahrhaftigen). Im NT heißt Jesus den, der ihn gesandt hat, wahrhaftig (Joh 8,26) u. bezeichnet den Geist Gottes als den Geist der Wahrheit (Joh 14,17; 15,26; 16,13), dagegen den Geist, der gegen Gott steht, als Lügner u. Vater der Lüge (Joh 8,44). Paulus verkündet, daß Gott nicht lüge (Tit 1,2). Damit stimmt die christl. Tradition überein (Hirt des Hermas, Mand. III 1; 1 Clem. 27,1; Hieronymus, Contra Ruf. I 18; PL 23,431; Augustinus, De symb. 1,2; PL 40,628; Augustinus, Or. de incarn. 6; PG 25,6).

Für den Christen wird die W. im besonderen in seiner Zugehörigkeit zu Christus verankert, der in seinem ewigen Leben das wahrheitsgetreue Abbild des göttl. Vaters (dessen Wort Joh 1,1; Abbild 2 Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3; Sohn), die Wahrheit (Joh 14,6), der Wahrhaftige (Offb 3,7; 19,11) ist. Zum Zeugnis für die Wahrheit ist er in die Welt gekommen (Joh 18,37). Nach Paulus ist er nicht Ja u. Nein zugleich, sondern nur das Ja zu den Verheißungen Gottes (2 Kor 1,19 f); der Christ, der an ihn gebunden ist, kann auch nicht zugleich Ja u. Nein sein (2 Kor 1,17-22). Petrus fordert auf, in die Fußstapfen Jesu zu treten, in dessen Mund sich nach Jes 53,9 Kein Trug findet (1 Petr 2,21 f). Letztl. drängt die Liebe den Christen dazu, in der Nachfolge Christi das Bild des wahrhaftigen Gottes in sich aufleuchten zu lassen. Durch die Bindung an Christus, durch die Gliedschaft in seinem Mystischen Leib sind die Christen auch miteinander eng verbunden u. einander verpflichtet: "Legt darum die Lüge ab u. redet die Wahrheit, ein jeder zu seinem Nächsten; denn wir sind Glieder untereinander" (Eph 4,25).


III. Offenheit wird nur unter der Leitung der Klugheit zur Tugend (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.109 a.1 ad 3). Das AT will, daß man am rechten Platz rede u. am rechten Platz schweige: "Ein kluger Mensch hält sein Urteil zurück; der Toren Herz hingegen schreit die Narrheit aus" (Spr 13,23). "Halte das Wort nicht zurück, wenn es retten kann, u. halte deine Weisheit nicht verborgen" (Sir 4,23). Jesus fordert zus. mit dem taubengleichen Sein ohne Falsch die Schlangenklugheit, die darüber urteilt, wie weit man sich eröffnen soll (Mt 10,16).


1. Man ist nicht verpflichtet, jedem beliebigen Menschen alles zu sagen, was man weiß. Abgesehen davon, daß man das gar nicht kann, besteht kein allg. Recht des Menschen, das gesamte Wissen jedes Mitmenschen zu erfahren, daher auch keine Pflicht allumfassender Mitteilung. Wenn man ohne Leugnung nur einen Teil seines Wissens sagt, geschieht der W. kein Abbruch, da ja der Ausdruck nicht im Gegensatz zur Überzeugung steht (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.109 a.4).


2. Die Pflicht, dem anderen sein Wissen mitzuteilen, hat man daher nur, wenn ein besonderer Verpflichtungsgrund da ist. Aus Gerechtigkeit ist der Befragte zur wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet, wenn der Fragende (z.B. als Vorgesetzter od. infolge eines freiwilligen Vertrags- od. Vertrauensverhältnisses) ein besonderes Recht hat, sie zu fordern. Die Nächstenliebe drängt zur Aufdeckung schädlichen Irrtums od. zur Hilfe für verkannte Unschuld.


3. Das Recht, sich nicht zu äußern, hat man, wenn kein besonderer Grund zur Wahrheitsmitteilung verpflichtet, bes. wenn die Mitteilung dem sich Offenbarenden Schaden brächte. Wie weit man sich dem anderen offenbaren soll, hängt zum guten Teil davon ab, wer fragt u. wozu er fragt. Gegenüber arglosen Suchern rät die Klugheit häufig zur Offenbarung, gegenüber böswilligen meistens zur Zurückhaltung.


4. Verfehlen würde man sich durch Preisgabe eines Geheimnisses, zu dessen Wahrung man verpflichtet ist.


Zurück zum Index