Unwissenheit
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1639-1642


Der Wille, dem die Sittlichkeit im eigentl. Sinn zukommt, kann sich für od. gegen ein Verhalten in seiner sittl. Beschaffenheit nur entscheiden, soweit dem Menschen diese Beschaffenheit bewußt wird (eigentl. Menschl. Akt). Soweit diese Beschaffenheit nicht erfaßt wird, kann auch der Wille nicht zu ihr Stellung nehmen; U. (unentwickeltes Werterfassen) schließt ein Tun aus dem Bereich der menschl. (sittl.) Akte u. damit aus dem Bereich der Anrechenbarkeit aus.

Das gilt freil. nur von echter U., die der Mensch bei bestem Willen nicht ablegen kann (unüberwindl. U., ignorantia invincibilis; vgl. Thomas v. A., S. Th. 1,2 q.6 a.8; q.76 a.2). Das, was man auf solche Art nicht weiß, kann für den Willen keine Rolle spielen; dafür, daß man es nicht weiß, kann der Wille bei unüberwindl. U. auch nichts. Ein Verhalten, das aus solcher U. entspringt, kann dem Menschen nicht angerechnet werden. Das kirchl. Lehramt muß folgerichtig die Auffassung ablehnen, daß Verhaltensweisen, die auf unüberwindl. U. zurückgehen, den Menschen als Sünden belasten, z.B. das Nichtleisten des Glaubens an Christus durch jene, die von der christl. Botschaft nichts gehört haben (D 1968), od. das Übertreten naturrechtlicher Vorschriften aus unüberwindl. U. (D 2302).

U. dagegen, die man bei durchschnittl. Sorgfalt ablegen könnte (überwindl. U., ignorantia vincibilis), ist anders zu beurteilen. An ihr hat der (träge od. böse) Wille Anteil, daher mittelbar auch an dem aus ihr entspringenden Verhalten (vgl. Thomas v. A., S. Th. 1,2 q.6 a.8; q.76 aa.3.4; De malo q.3 a.8). "Es wird dir nicht zur Schuld angerechnet, was du ohne deinen Willen nicht weißt, wohl aber, was du nicht weißt, weil du das Nachforschen vernachlässigst" (Augustinus, De lib. arb. III 19; PL 32,1297). Die Synode von Sens wandte sich gegen die Auffassung, jegl. U. entschuldige von Sünde (D 730; vgl. 729).

Zugeben kann man, daß der Wille dessen, der aus überwindl. U. handelt, an seiner Handlung nicht so hingebend beteiligt sein mag wie der Wille dessen, der ihre Beschaffenheit genügend kennt; beim Wissen um sie entschiede er sich vielleicht anders. Im Fall der Sünde ist seine Schuld geringer als die Schuld dessen, der voll wissend handelt (vgl. Thomas v. A., S. Th. 1,2 q.76 a.4). "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" (Lk 23,24). "Aber ich habe Erbarmen gefunden, weil ich aus U. im Unglauben handelte" (1 Tim 1,13). Im Gleichnis scheint Jesus den Knecht, der aus (überwindl.) U. strafwürdig handelt, weniger zu belasten als den, der es wissend tut (Lk 12,47 f; vgl. Augustinus, De gratia et lib. arb. 3,5; PL 44,884 f).

Dennoch: "Es gibt auch Sünden aus U., mögen sie auch geringer sein als die wissentl. begangenen" (Augustinus, De coniug. ad. I 9; PL 40,457). Die Größe der Schuld hängt von der Nachlässigkeit bei Behebung der U. ab. Der Mensch als geistbegabtes Wesen ist eben verpflichtet, jenes Wissen zu erwerben, das er braucht, um bestehen u. seine Lebensaufgabe erfüllen zu können (Bildung).

Schuldmindernd wirkt am ehesten die sog. einfache überwindl. U. (ignorantia simpliciter vincibilis), zu deren Behebung zwar irgendwelche, aber nicht hinreichende Sorgfalt aufgewandt wird. Weniger wird die Schuld durch arge U. (ign. crassa od. supina) herabgesetzt, zu deren Überwindung der Mensch überhaupt nichts tut. Auf keinen Fall wirkt die gekünstelte U. (ign. affectata) schuldmindernd, die U., die der Mensch absichtl. unterhält, um keine sittl. Rücksichten nehmen zu müssen. "Sie sprachen doch zu Gott: Bleib von uns fern! Von deinen Wegen wollen wir nichts wissen" (Ijob 21,14). Solche U. entspringt nicht aus reiner Nachlässigkeit, sondern aus der Anhänglichkeit an die Sünde (vgl. Thomas v. A., S. Th. 1,2 q.6 a.8; q.76 a.4).

Das kirchl. Gesetz anerkennt, daß echte U. die Anrechenbarkeit eines Vergehens mindert od. aufhebt (CICc. 2199); für den äußeren Rechtsbereich muß sie freil. bewiesen werden (c.16 §2). Gekünstelte U. des Gesetzes od. der Strafe entschuldigt nicht (c. 2229 §1). Das bürgerl. Gesetz läßt die U. hinsichtl. des Gesetzes od. der Strafe meistens nicht als Entschuldigungsgrund gelten, häufig aber doch als Strafmilderungsgrund.


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