Sinnliche Regung
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1429-1438


1. Die eigentl. Sittlichkeit kommt dem Willen zu: Er trifft die Entscheidungen für die verantwortl. Selbstgestaltung des menschl. Lebens. In der Wahl unter den mögl. Motiven, die ihm die Erkenntnis bereitstellt, kann er durch Neigung od. Abneigungen beeinträchtigt werden, die den Menschen in eine bestimmte Richtung zu ziehen trachten. Zu ihnen zählen die Regungen der Sinnensphäre, die sich auf die sinnl. Erkenntnis eines sinnl. Gutes od. Übels hin einstellen. Daß wir solche Regungen haben, zeigt uns die Erfahrung. Sie setzen entsprechende Anlagen (sinnl. Strebepotenzen) voraus.


Das sinnl. Streben unterscheidet sich von den rein naturhaften physiologischen od. vegetativen Neigungen des Lebewesens zur Erhaltung, Entfaltung u. Weitergabe des Leibeslebens. Diese Neigungen werden nicht erst durch vorangegangene Wahrnehmungen als bewußte Strebungen hervorgerufen, sondern sind infolge unmittelbarer Zielgerichtetheit der körperl. Organe u. Kräfte da. Vom geistigen Streben wieder hebt sich das sinnliche dadurch ab, daß es an einen einzelnen Sinnengegenstand eingebunden ist, bei dessen Wahrnehmung es notwendig hervorgerufen wird, während das geistige Strebevermögen (der Wille) sich auf das Gute schlechthin (das umfassend Beglückende) bezieht u. frei wählen kann, in welchen Gegenständen, die von der Vernunft vorgelegt werden, es das Gute sucht.


In der s.n R. wird das menschl. Subjekt zum erkannten Objekt hingezogen od. von ihm abgestoßen. Das Objekt gewinnt damit eine gewisse Macht über das Subjekt. Man kann daher die s. R. auch als Erleiden (passio im Sinn von leidenschaftl. Regung) bezeichnen. Vielfach verwendet man dafür auch den Namen Gefühl (Affekt).


Erfahrungsgemäß stellen sich in der sinnl. Sphäre folgende Regungen ein: Ein sinnl. Gut wird als zukömml. u. lusterregend empfunden; es kommt zum einfachen Gefühl der Zuneigung. Ein sinnl. Übel wird als abträgl. u. unlusterregend erkannt; darauf folgt das einfache Gefühl der Abneigung. Nicht immer aber trägt das sinnl. erkannte Objekt diesen reinen Charakter des Zukömmlichen od. des Abträglichen. Der Gegenstand kann zukömml. sein, aber es kann sich damit Abträgliches verbinden; od. abträgl., jedoch in Verbindung mit guten Seiten. Das Gefühl ihm gegenüber ist dann nicht einfach, sondern komplex, aus Zu- u. Abneigung gemischt; nur mit gewisser Schwierigkeit kann er angestrebt od. aufgegeben werden. Auf Grund dieser Erfahrung von einfachen u. komplexen Gefühlen unterscheidet Thomas v. Aq. im sinnl. Begehrungsvermögen den Appetitus concupiscibilis u. den A. irascibilis u. weist dem ersten die einfachen u.dem zweiten die komplexen Gefühle zu (S.Th. 1 q.81 a.2). Als einfache Gefühle kennt er: 1. gegenüber dem einfachen sinnl. Guten die Zuneigung (Lust, amor) u. als deren Entwicklungsstufen das erste Wohlgefallen (die einfache affektive Anpassung des Subjekts an das Objekt - amor, 1 q.26 aa. 1-4), darauffolgend das Begehren des Guten,das man nicht besitzt (das Hinstreben auf das Abwesende - desiderium, concupiscentia, 1,2 q.30 a.2), endl. den Genuß od. die endgültige Lust (das Ruhen im gegenwärtig gewordenen Guten - delectatio, gaudium, 1,2 q.23 a.4); 2. gegenüher dem einfachen sinnl. Übel die Abneigung (Unlust, odium) mit folgenden Entwicklungsstufen: das erste Mißfallen (Unlust, Abneigung, Antipathie - odium, 1,2 q.29 a.3), dann das Wegstreben vom Übel (Abscheu - fuga, abominatio, 1,2 q.23 a.4), schließl. die Trauer über das Übel, das nicht abgewandt werden konnte (tristitia, 1,2 q.23 a.4; q.36 a.1).


Auch von komplexen Gefühlen weiß Thomas: 1. Einem erst bevorstehenden schwierigen Guten od. Übel kann man sich zuwenden,dem Guten in der Hoff nung, es zu erreichen (spes, 1,2 q.40 a.2), einem Übel in der kühnen Zuversicht, es zu überwinden (audacia, 1,2 q.45 aa. 1.2). Man kann sich von dem Guten wegen der Schwierigkeiten, die seiner Erreichung entgegenstehen, entmutigt abwenden (desperatio, 1,2 q.25 a.3; q.40 a.4), kann vor dem Ühel, das man nicht überwinden zu können meint, in Furcht zurückweichen (timor, 1,2 q.41 a.4; q.42 a.3). Gegenüber der Schwierigkeit, die mit dem Besitz eines gegenwärtigen Guten od. der Beseitigung eines gegenwärtigen Übels verbunden ist, stellt sich der Zorn ein (ira, 1,2 q.46 a.6); in ihm zeigt sich der komplexe Charakter der irasciblen Rogungen am deutlichsten: Er zielt nicht nur auf Beseitigung des gegenwärtigen Übels, sondern zugleich auf Rache am Bedroher, die als lustbereitendes Gut empfunden wird (1,2 q.46 a.2). - Die moderne Triebpsychologie hat diese Grundeinsichten des hl. Thomas keineswegs entwertet, kann sie aber durch ihre empirisch gewonnenen Erkenntnisse unterbauen (Pfürtner).


2. Wenn wir nach der Bedeutung der s.n R.en für das sittl. Leben fragen, achten wir zunächst auf die s. R., die jedem Willenseinfluß vorausgeht (concupiscentia antecedens). Da sie dem Willen nicht untersteht, fällt sie nicht in den Bereich der Sittlichkeit (vgl. Thomas v. Aq., Sent. 2 d.24 q.3 a.2; 1,2 q.24 a.1). Ihrerseits sucht sie aber den Menschen in eine bestimmte Richtung zu ziehen, unbekümmert darum, ob diese Richtung der von der Vernunft als richtig erkannten Ordnung entspricht od. nicht, u. häufig fügt sich der Mensch willensmäßig diesem Ziehen (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 1,2 q.24 a.3 ad 1; q.77 a.6). Das sinnl. Begehren ist ja der Vernunft gegenüber nicht nur gehorsamsfähig, sondern kann zu ihr auch in Gegensatz treten, da es zu seinen Reizobjekten naturhaft hingezogen wird u. da es von Körperorganen ahhängig ist, die einfach nach den Gesetzen der Physiologie unbekümmert um die vernunftgemäße Ordnung tätig zu sein streben. - Es vermag sich auf einem doppelten Weg durchzusetzen: 1. Es verleitet die Vernunft, nicht auf die gesamtmenschl. lnteressen zu achten, sondern für gut zu finden, was der Sinnlichkeit angenehm ist; diesem Vernunfturteil folgt dann der Wille (Weg der Überredung, der niederen Motivierung); 2. es strebt seine Ziele derart intensiv an, daß dem Willen jegl. Energie entzogen wird (falsche Ökonomie der Seelenkräfte); gegenüber der quantitativen Übermacht der Triebenergien bleibt die qualitativ höhere Macht des Willens wirkungslos. Während der Urstand durch eine Integrierung des sinnl. Begehrens in die rechte OrdnÒng gekennzeichnet ist, fehlt dem unter der Erbsünde stehenden Menschen diese Integrierung u. muß sie von ihm erst errungen werden: Das konkupiszible Begehren leidet an der Wunde der Begierlichkeit auch nach solchen Objekten, die nicht der Vernunft gemäß sind (concupiscentia im Sinn des bösen Begehrens), das iraszible Begehren an der Wunde der Schwäche gegenüber Widerständen gegen die Verwirklichung der vernunftgemäßen Ordnung.


Die vorausgehende s. R. ist selbst also nicht willentl., kann aber den Willen, der nachher tätig zu sein beginnt, beeinflussen u. ihn in seiner Wahlfreiheit beeinträchtigen. Der Mensch, der unter ihrem Einfluß steht, ist in gewisser Weise gebunden; wenn er sich willensmäßig in ihrem Sinn entscheidet, tut er es infolge dieser Bindung hingegebungsvoller, aber auch weniger frei. Wenn es geschieht, sind die so gesetzten Handlungen weniger anrechenbar. Das kirchl. Gesetz anerkennt die mehr od. minder weitgehende Herabsetzung der Anrechenbarkeit durch leidenschaftl. Erregung (CICC. 2206). In vielen Fällen ist die Erregung freil. nicht so stark, daß Vernunft u. Wille von ihr vollkommen beherrscht würden; wenn es zur Sünde kommt, mag diese wegen des geringeren Grades an Willentlichkeit einen geringeren Grad der Schuld haben ("Sünde aus Schwachheit"; "Die Leidenschaft mindert die Sünde, soweit sie die Willentlichkeit mindert", Thomas v. Aq., S.Th. 1,2 q.77 a.6), ohne daß der Täter jedoch ganz von Schuld frei wäre (vgl. Thomas v. Aq. a.a. O. a.7). Ganz enthebt die vorausgehende Erregung den Menschen der Verantwortung nur, wenn sie die freie Entscheidung vollkommen ausschaltet, etwa den Geist so verwirrt, daß er unfähig wird, auf die sittl. Beschaffenheit einer Tat zu achten (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 1,2 q.77 a.7; CICc. 2206). lm konkreten Fall läßt sich oft schwer ausmachen, wie weit die Freiheit aufgehoben wurde.


3. Da ein von Vernunft u. freiem Willen unberührtes sinnl. Triebleben der Eigenart des Menschen als sittl. Wesens nicht entspricht, ist es sittl. Aufgabe des Menschen, sein Triebleben gemäß der von der Vernunft erkannten sittlichen Ordnung willensmäßig entscheidend selbst zu regeln. Das Ziel ist nicht die Auslöschung des sinnl. Begehrens, sondern die Umwandlung des dem Willensentscheid voraus gehenden Begehrens in ein ihm nachfolgendes (concupiscentia consequens) u. von ihm beeinflußtes. Der Einfluß des Willens kann sich darauf erstrecken, daß eine s. R. durch ihn hervorgerufen od. bei ihrem selbständigen Auftreten bejaht wird. Durch diesen Einfluß wird die s. R. willentl. (sittl.) u. je nach ihrem Verhältnis zur sittl. Ordnung als gut od. böse anrechenbar (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 1,2 q.77 a.6; CICC. 2206). Sie bindet dann zwar mehr an das folgende Tun, aber weil der Mensch selbst es so will.


Das Ziel der verantwortl. Regelung des Trieblebens durch den Menschen ist nicht der leidenschaftslose Mensch, der überhaupt keine s.n R.en mehr kennt. Da sich diese Regungen aus einer wirkl. im Menschen vorhandenen Seinsschicht naturgemäß ergeben, würde dem Menschen, in dem alle s.n R.en erstorben sind, etwas am vollen Menschsein fehlen. Das Ziel kann natürl. auch nicht ein Triebleben sein, das der Wille zwar im Griff hat, das er aber anders steuert, als die von der Vernunft erkannte rechte Ordnung es verlangt. Das Ziel muß vielmehr ein vom Willen gemäß der durch die Vernunft erkannten sittl. Ordnung geformtes Triebleben sein (vgl. 2. Vat. Konz., GS 17). Derart geordnete Regungen finden sich auch bei Christus: "Und er blickte sie ringsherum zornig an, betrübt über die Verhärtung ihres Herzens" (Mk 3,5). " Er begann zu erschauern u. zu zagen u. sprach zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis in den Tod" (Mk 14,33 f). "Der Herr, der sich herabließ, ein Knechtsleben zu führen, ließ menschl. Empfindungen zu, wo er es für gut fand; denn in ihm, der einen wahren menschl. Leih u. eine wahre menschl. Seele besaß, gab es auch wahre menschl. Regungen" (Augustinus, De civ. D. XIV 9; vgl. Hieronymus, Com.in Mt IV ad 26,37; PL 41,415; 26,197; Thomas v. Aq., S.Th. 3 q.15 a.4).


Zur Regelung des sinnl. Trieblebens durch den Willen gemäß der sittl. Ordnung stehen drei Wege zur Verfügung:


a) Der Wille hindert das sinnl. Begehren an der Ausführung seines Verlangens (Weg der Versagung). Die dem Willen widerstrebende Sinnlichkeit besteht dabei weiter u. wird vom Willen nur unter Druck gehalten. Dieser Weg kann jedoch nur ein Notbehelf sein, der gegenüber einer Triebübermacht für kurze Zeit angewandt wird, solange sie für die Lenkung durch den Willen noch nicht reif geworden ist. Die unmotivierte Triebversagung ist keine Dauerlösung, da sie die Gefahr schafft, daß der verdrängte Trieb eines Tages gegen den Willen durchbricht od. daß es zu einer seelischen Verkrampfung (Neurose) kommt.


b) Der Wille strebt intensiv dem der Vernunft als richtig erkannten Ziel zu u. richtet sich damit auf ein anderes Objekt als das Verlangen des sinnl. Triebes. Diese intensive Bewegung der höheren Kraft greift auf die niedere über u. zieht sie mit. Außerdem wird durch die intensive Betätigung des höheren Vermögens dem niederen die psychische Energie entzogen (alle Seelenvermögen sind durch ihre Verwurzelung in dem einen Seelengrund miteinander verbunden). Dieser Weg der rechten Ökonomie der Seelenkrafte (S. Freud u. C.G. Jung sprechen von einem Gesetz der Ökonomie der psychischen Energie) besteht also in der Bindung der psychischen Energien durch geistige lnteressen. Auch er kann nicht voll befriedigen. Seine ausschließl. Beschreitung müßte zur Verkümmerung der zum Sein des Menschen gehörigen sinnl. Schichten u. damit zur Schmälerung der Persönlichkeitsentfaltung führen.


c) Daher muß sich mit diesem Weg jener der Motiveinsicht verbinden. Die Sinnlichkeit richtet sich immer nur auf Teilausschnitte der menschl. Bedürfnisse, die Vernunft dagegen kann die Gesamtinteressen des Menschm überblicken. Wenn die Vernunft aufzeigt, welches Verhalten des sinnl. Begehrens die Gesamtinteressen des Menschen verlangen, bietet sie damit dem sinnl. Begehren ein Motiv für die Unterordnung der Teilinteressen des Triebes unter die Gesamtinteressen des Menschen. Dadurch kann erreicht werden, daß die Sinnlichkeit, weil sie auf ihre Sinnhaftigkeit innerh. des gesamtmenschl. Seins angesprochen u. dafür aufgeschlossen wird, sich der Führung durch den vernunfterleuchteten Willen fügt. Die Sinnlichkeit des Menschen hat eben dadurch, daß sie einem Menschen angehört, einen anderen Charakter als die des Tieres. Das Tier verhält sich mit erstaunl. Sicherheit in seiner Triebbetätigung richtig. Es erfaßt anscheinend, welche Betätigung seiner Natur u. ihrer Grundausrichtung (appetitus naturae) entspricht u. welche nicht. Die Fähigkeit, Einklang od. Widerspruch eines Verhaltens mit der Natur zu erfassen, nennt man sinnl. Instinkt (Thomas v. Aq., S.Th. 1 q.78 a.4: "vis aestimativa" ). Für den Menschen genügt nicht ein sinnl. Instinkt zum Erfassen, ob eine Triebbetätigung seiner Natur entspricht od. nicht. Seine Sinnlichkeit ruht ja nicht in sich selbst, sondern ist in der umfassenden Ganzheit seines geistig-sinnl. Wesens beheimatet u. findet in dieser ihren Sinn. An der Feststellung dessen, welche Triebbetätigung dieser Gesamtnatur u. ihrer Grundausrichtung (app. nat.) entspricht u. welche nicht, muß die geistige Erkenntnisfähigkeit beteiligt sein, die imstande ist, die Interessen dieser Gesamtnatur allseitig zu beurteilen; so spielt für den Mensdhen die Vernunft die Rolle eines geistigen lnstinkts (Thomas v. Aq., S.Th. 1 q.78 a.4; " vis cogitativa" od. "ratio particularis"), für den seine im Vergleich zu der des Tieres weit instinktunsicherere Sinnlichkeit offen ist u. dessen sie zur richtigen Betätigung bedarf. Eben desh. ist es auch mögl., daß der sinnl. Instinkt des Menschen, der auf Teilinteressen geht, sich dem geistigen Instinkt fügt, der die Gesamtinteressen des Menschen im Auge hat. Diese Einordnung der Triebinteressen in die gesamtmenschl. Interessen ist nicht Verdrängung, sondern wahre Sublimierung. Durch sie werden die Akte des sinnl. Begehrens zu echt menschl. u. menschenwürdigen Akten. Erst bei solcher Durchformung der sinnl. Sphäre wird die sittl. Ausrichtung nicht nur von seinem Wollen, sondern von seinem ganzen Sein getragen. Als typische Vertreter des ersten u. des dritten Weges stehen einander F. de Suàrez u. Thomas v. Aq. gegenüber. Nach Suàrez bewältigt der Mensch die sinnl. Strebekräfte sittl., wenn er sie zügelt, d.h. dazu bringt, überhaupt nicht zu begehren (De act. hum. in genere tract. IV disp.3 sect.7 n.5). Für Thomas dagegen besteht die Hauptaufgabe der Tugend gegenüber dem sinnl. Begehren nicht in einer Unterdrückung, sondern in einer positiven Mitbeteiligung der sinnl. Triebkräfte am guten Wollen. "Es kommt der Tugend nicht zu, daß jene Bereiche, die der Vernunft untergeordnet sind, von eigenen Akten ablassen, sondern daß sie, die eigenen Akte vollziehend, den Befehl der Vernunft ausführen" (S.Th. 1,2 q.59 a.5).


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