Notwehr
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1201-1208


1. Unter N. versteht man die gewaltsame Abwehr eines ungerechten Angriffes auf das eigene Leben od. sonstige lebenswichtige Güter.


2. Der sittl. Beurteilung der N. dienen natürl. Überlegungen; AT u. NT steuern einige Elemente dazu bei.


a) Das AT fordert die Unantastbarkeit des Menschenlebens (Ex 20,13; Dtn 5,13) u. begründet sie mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 9,6). Sogar Kain, der sich am Leben seines Bruders vergriffen hat (Gen 4,10), bleibt noch unter dem Gesetz der Unantastbarkeit (Gen 4,15). Einer Gesellschaft jedoch, in der Bluttaten zunahmen, wurde die Schonung des Mörders gefährl. So wurde in den Noe-Geboten verfügt, dem Mord solle dadurch entgegengewirkt werden, daß dem Mörder sein Blut vergossen wird: "Wer Menschenblut vergießt, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden" (Gen 9,6). Das AT ließ die Todesstrafe zu (für Mord Gen 9,6; Ex 21,12; Lev 24,17.21; Num 36,16; Dtn 19,11 f) u. interpretierte das Tötungsverbot: "Den Schuldlosen u. den, der recht hat, sollst du nicht töten" (Ex 23,7). Damit wurde die Notwendigkeit anerkannt, der ungerechten Gewalt durch Gewalt eine Schranke zu setzen.


b) Jesus verlangt Gewaltlosigkeit: "Ihr habt gehört, daß gesagt ist: 'Aug um Aug' u. 'Zahn um Zahn'. Ich aber sage euch: Widersteht dem Bösen nicht, sondern wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin, u. dem, der dich vor Gericht bringen u. deinen Rock nehmen will, dem laß auch den Mantel. Und wer dich nötigt, eine Meile weit (zu gehen), mit dem gehe zwei" (Mt 5,38-41). Man hat heute mehr als früher auf die Unterscheidung zw. allg. gültigen Weisungen einerseits u. ihren situationsbedingten Konkretisierungen od. beispielhaften Einkleidungen anderseits achten gelernt. In der Rede Jesu über das Nichtvergelten des Bösen ist die zeitlos gültige Grundforderung zweifellos das Gebot der Nächstenliebe bis hin zur Feindesliebe (vgl. Mt 5,43 f). Man kann jedoch fragen, ob die konkreten Weisungen (Hinhalten der anderen Wange, Überlassen des Mantels, Mitgehen) allg. verbindl. sind. Der Fall kann nicht ausgeschlossen werden, daß einem bestimmten "Feind" gegenüber die situationsgerechte Konkretisierung nicht das gewaltlose Hinnehmen, sondern die entschiedene Abwehr seines Unrechtes ist.

Es kann ja sein, daß der Geschlagene mit dem Hinhalten der anderen Wange nicht den wahren Interessen des Schlagenden dient (der durch Widerstand eher zur Besinnung u. zum Einlenken gebracht werden kann) od. daß er mit dem Hinhalten Schutzpflichten gegenüber anderen vernachlässigen würde, die vom Schlag mitbetroffen sind, od. daß der Geschlagene in seiner gegenwärtigen Verfassung das Hinhalten nicht durchstehen kann. Freil. kann es auch durchaus situationsrichtig sein, der ungerechten Gewalt mit völliger Enthaltung von Gewalt zu antworten. Jesus u. Paulus setzen der ungerechten Gewalt, die sie erleiden, nicht Gewalt entgegen, halten freil. auch nicht buchstäbl. die andere Wange hin, sondern wehren sich mit Worten (Joh 18,23; Apg 16,37; 23,2 f).


c) Im AT wird in Verhältnissen, in denen der einzelne nicht anders geschützt werden kann, die Blutrache für berechtigt angesehen (Gen 4,15 das Kainsmal als Zeichen eines Stammes, der Blutrache übt; 9,6; Num 35,19; Dtn 19,12). Sobald der Staat den Schutz seiner Bürger übernommen hat, steht es den dazu bestimmten Stellen nicht zu, sich auf den Standpunkt der Gewaltlosigkeit zu stellen u. die zu Schützenden schutzlos preiszugeben. Paulus, der so eindringl. mahnt, nicht Böses mit Bösem zu vergelten (Röm 12,17-21), sagt in unmittelbarem Anschluß daran, die obrigkeitl. Gewalt sei von Gott; der Gute habe sie nicht zu fürchten, wohl aber der Böse, "denn nicht umsonst trägt sie das Schwert. Ist sie doch Dienerin Gottes, Rächerin zum Zorn für den, der Böses tut" (Röm 13,1-4). Der Apostel verurteilt es also nicht, wenn die Obrigkeit gegen Übeltäter mit dem Schwert vorgeht; er ist sogar der Auffassung, sie leiste damit einen ihr von Gott zugeteilten Dienst.


d) Jesus verbietet den Waffengebrauch im Wort an Petrus, nachdem dieser dem Knecht des Hohenpriesters das Ohr abgehauen hat, mit dem Hinweis darauf, daß alle, die zum Schwert greifen, durch das Schwert umkommen werden, u. daß der Vater ihm auf andere Art beistehen könnte, u. fragt: "Wie aber würden dann die Schriften erfüllt, daß es so geschehen muß?" (Mt 26,52-54). Sicher ergibt sich daraus nur, daß Jesus als Erfahrung feststellt, durch das Schwert komme leicht um, wer es häufig ergreift, u. daß er den Kampf für sich ablehnt, da eben die Stunde zum Erlöserleiden gekommen ist.


3. Die Überzeugung, N. sei sittl. zulässig, ist in der Menschheit allg. verbreitet. Cicero (Pro Milone 4) spricht von ihr als einem Bestandteil des natürl. sittl. Gesetzes. Staatl. Gesetze gestatten es, rechtswidrigen Angriff mit Gewalt abzuwehren, auch wenn daraus der Tod des Angreifers folgt. Die kath. Sittlichkeitslehre hat sich dieser Auffassung angeschlossen (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.64 a.7). Das Kirchenrecht erklärt, daß aus gerechter N. unter entsprechenden Bedingungen keine Schuld entspringt (CICc. 2205 § 4).


Für die sittl. Zulässigkeit der N. werden zwei Hauptgründe angeführt:


a) Jeder einzelne Mensch hat die Pflicht u. das Recht, sein Leben zu erhalten u. gemäß seiner gottgesetzten Bestimmung zu entfalten, solange Gott ihm dazu Zeit läßt. Das Recht der N. ist also in einer richtigen Selbstliebe begründet, die wieder ihre Wurzeln in jener Liebe hat, mit der Gott jeden Menschen bejaht. Soweit vom Bestand des eigenen Lebens u. der eigenen lebenswichtigen Güter etwas für andere abhängt, fließt die Rücksicht auch auf sie in die Begründung der N. ein. Dem N.berechtigten können auch andere zu Hilfe kommen; sie können dazu sogar durch Nächstenliebe, im besonderen durch Verwandtenliebe, od. infolge einer übernommenen Schutzaufgabe (Polizei) durch Gerechtigkeit verpflichtet sein.

Für den ungerecht Angegriffenen ist nicht bloß eine Art des Verhaltens sittl. vertretbar. Soweit es sich nur um sein eigenes Leben od. eigene lebenswichtige Güter handelt, kann er der Liebe zum Angreifer so weit Gestalt geben, daß er es darauf ankommen läßt, ob er den Angreifer durch Unterlassung des Widerstandes moralisch überwindet u. zur Besserung führt. Rücksichten auf andere (etwa auf die eigene Familie) können dem Angegriffenen die Verteidigung zur Pflicht machen.

Das Recht der Abwehr kann gegenüber jedem ungerechten Angriff geltend gemacht werden. Für den formal ungerechten Angreifer kommt noch dazu, daß er schuldhaft handelt u. daher sich nicht mehr im selben Sinn auf sein Lebensrecht berufen kann wie der schuldlose Angegriffene (vgl. Thomas v. A., a.a.O.).


b) Auch die Gesellschaft ist an der N. interessiert. Der einzelne hat ein Recht, von der Gesellschaft geschützt zu werden. Wenn er sie nicht zu Hilfe rufen kann, darf er selbst alle notwendigen Schutzmaßnahmen treffen. Er vertritt damit auch die Gesellschaft, der etwas daran liegen muß, daß unbefugte Angriffe nicht ungehindert geschehen können.

Gegenüber dem Einwand gegen das Recht der N., daß keines von den Gütern, die durch N. verteidigt werden, höher stehe als das Leben des Angreifers, ist zu fragen, ob nicht das gesellschaftl. Gut des öffentl. Rechtes u. der öffentl. Sicherheit, das so vielen Menschenleben zugute kommt, doch höher einzuschätzen ist als das Leben des einzelnen ungerechten Angreifers.


4. Mit dem Zugeständnis, in der Situation der Bedrohung könne N. zulässig sein, hat die kath. Sittlichkeitslehre immer das Bemühen verbunden, durch Aufzeigen der Bedingungen gerechter N. aller unberechtigten Ausweitung vorzubeugen.


a) Als grundlegend wichtig ist zu betonen, daß N. nur gegen einen ungerechten Angreifer geübt werden darf, d.h. gegen einen solchen, der zur gefährdenden Handlung kein Recht hat (gegen verdiente Bestrafung z.B. gibt es kein Recht der N.). Da N. ihrem Wesen nach Schutzmaßnahme, nicht Strafe ist, darf man sich durch sie gegen jeden ungerechten Angreifer schützen, ob er formal od. bloß material ungerecht, d.h. in zurechnungsfähigem od. -unfähigem Zustand, handelt (vgl. Anrechenbarkeit).


b) N. findet ihre Grenzen daran, daß sie berechtigte Selbstschutzmaßnahme ist (moderamen inculpatae tutelae). Bei der Selbstverteidigung darf daher gegen das Leben des Angreifers nicht mehr geschehen, als zum Schutz des Angegriffenen notwendig ist. Die Vernichtung des Bedrohers verliert den Charakter der N., wenn sie nicht zum Schutz des Bedrohten notwendig ist (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.64 a.7).

So kann wohl die gewaltsame Abwehr eines gegenwärtigen od. unmittelbar bevorstehenden ungerechten Angriffes gerechtfertigt werden, nicht aber die Tötung eines Angreifers, der in der Vergangenheit erfolglos angegriffen hat od. erst in der Zukunft gefährl. zu werden droht (vgl. D 2038). In den beiden letzten Fällen wäre die Tötung nicht N., sondern Strafe für eine vergangene Untat od. Schutzmaßnahme auf längere Sicht; beide kommen dem Staat zu, dessen geordnete Rechtspflege durch solch eigenmächtiges Vorgehen seiner Bürger gestört würde.

Ferner darf das Leben des Angreifers nicht vernichtet werden, wenn die Gefahr ohne großen Schaden auf andere Weise (z.B. durch Flucht) abgewandt werden kann od. wenn der Angreifer durch harmlosere Mittel (z.B. durch Verwundung) unschädl. gemacht werden kann. Dem Angegriffenen ist freil. zugute zu halten, daß er im Fall des plötzl. Angriffes die Verteidigungsmaßnahmen nicht ruhig überlegen kann u. daher leicht ohne seine Schuld das notwendige Ausmaß überschreiten kann.


c) Es läßt sich rechtfertigen, daß nicht nur das Leben, sondern auch andere lebenswichtige Güter durch gewaltsame Abwehr des ungerechten Angreifers verteidigt werden, wenn sie nicht anders geschützt werden können (vgl. Ex 22,1). Da es sich um lebenswichtige Güter handelt, ist ihre Verteidigung letztl. Verteidigung des Lebens selbst; auch für die Gesellschaft wäre es ein schwerer Nachteil, wenn dem ungerechten Angreifer auf solche Güter nicht sofort wirksam entgegengetreten werden dürfte.

So kann ein Eigentümer zwar nicht Kleinigkeiten (vgl. D 2131), wohl aber Vermögenswerte, die ihm tatsächl. gehören (vgl. D 2132 f) u. die für ihn u. seine Familie lebenswichtig sind, mit Gewalt gegen den Dieb od. den Räuber verteidigen, wenn dieser von der ungerechten Entwendung nicht anders abgehalten werden kann u. keine Aussicht besteht, das Entwendete später wieder zu erlangen.

Andere hohe Güter, die auf diese Art geschützt werden dürfen, sind die Unversehrtheit des Leibes (gegen Verstümmelung od. Notzucht) u. die Freiheit (gegen lange ungerechte Freiheitsberaubung).

Dagegen scheint es nicht gerechtfertigt zu sein, jenen zu töten, von dem man eine ungerechte Verletzung der Ehre erlitten hat od. befürchtet (vgl. D 2037 2130). Ehrenschäden sind meistens nicht unbehebbar u. können auf andere Weise behoben werden; die Tötung selbst aber beweist durchaus nicht, daß der Töter ehrenhafter ist als der Getötete.


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