Geschichte der
Moraltheologie (Mittelalter)

Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1969, Sp. 482-484


2. Das frühe Mittelalter begnügte sich damit, das v. den Vätern Erarbeitete in Sentenzenwerken (Isidor v. Sevilla, später Petrus Lombardus) zu sammeln, zu bewahren u. zu erklären. Durch Zusammenfassung der altkirchl. Bußgesetze u. der damals geltenden Vorschriften entstanden die Poenitential- od. Beichtbücher, die verzeichneten, welche Bußstrafen für die einzelnen Vergehen aufzuerlegen waren; sie haben ein stark kasuistisches Gepräge. Im 13. Jh. hat Raimund v. Peñafort im Anschluß an ein kasuistisches Werk eines Ungenannten seine berühmte "Summa de casibus" geschaffen. Im 14. u. im 15. Jh. entstanden als Nachschlagwerke für die Seelsorger in größerer Zahl Beichtsummen, als deren bedeutendste die "Summa Theologica" v. Antonin v. Florenz.

Der Begründer des ersten wissenschaftl. Systems der christl. Sittlichkeit wurde Thomas v. Aquin. Im engsten Anschluß an die moraltheol. Leistungen v. Petrus Lombardus, Alexander v. Hales u. Albert d. Gr. hat er im 2. Teil seiner "Summa Theologica" die christl. Sittlichkeit in einem großartigen Gesamtbau dargestellt. Thomas bettet die Sittlichkeitslehre ("moralis consideratio": S.Th. 1,2 q.6 prol.) mitten in die Dogmatik hinein, wenn er im 1. Teil der Summa v. Gott spricht, im 2. Teil vom Streben des Menschen zu Gott, im 3. Teil v. Christus als dem Weg des Menschen zu Gott ("Die Hauptaufgabe dieser hl. Lehre liegt also darin, uns Gott erkennen zu lassen, nicht nur, wie er in sich ist, sondern auch soweit er Ursprung u. Ziel der Dinge u. im besonderen der vernünftigen Geschöpfe ist. Wir handeln also: 1. über Gott; 2. über die Bewegung der vernünftigen Schöpfung zu Gott hin; 3. über Christus, der als Mensch für uns der Weg zu Gott ist", 1 q.2 prol.). Schon durch diese Einordnung ist die moraltheolog. Lehre des hl. Thomas als theo- u. christozentrisch gekennzeichnet. Thomas schöpft für die Moraltheologie aus denselben Quellen wie für die Dogmatik, näml. aus Offenbarung (in starker Anlehnung an Augustinus) u. Vernunft (in enger Verbindung mit Aristoteles). Mag auch die natürl. sittl. Erkenntnis bei Thomas eine große Rolle spielen, so wird sie doch in eine wesentl. theolog. Sittlichkeitslehre hineingenommen. Seine Moraltheologie trägt positiven Charakter, ist Lehre v. der Tugend, in den speziellen Ausführungen auf den drei göttl. u. den vier Kardinaltugenden aufgebaut. In der Beantwortung der Fragen, die er den einzelnen Artikeln voranstellt, geht er immer auch auf konkrete Fälle ein, freilich erst, nachdem er in den Hauptteilen der Artikel die Grundsätze für ihre Lösung dargelegt hat. Thomas will in erster Linie Vollkommenheits-, nicht Sündenlehre bieten; so finden in seinen Ausführungen auch Themen der geistl. Theologie (Aszetik und Theologie der Mystik) ihren Platz.

Während Thomas die sittl. Ordnung mehr im Erkennen Gottes verankert (Ewiges Gesetz), betonen die Franziskanertheologen mehr das Wollen Gottes. Bei Johannes Duns Scotus (dessen Theologie allerdings noch nicht genügend erforscht zu sein scheint) findet sich der kennzeichnende Satz: "Das Gute ist gut, weil Gott es will; nicht will es Gott, weil es gut ist" (Sent. 3 d.19 q. unica §7). Das konnte der Ausgangspunkt für unheilvolle Auffassungen werden. Der Nominalismus des ausgehenden Mittelalters, der in Wilhelm v. Ockham seinen geistigen Vater hat, will eben das Gute letztl. in der Übereinstimmung einer Handlung mit einem Willen begründen. Außerdem schrieb er nur dem einzelnen Wirklichkeit zu, nicht aber den allg. Begriffen. Immerhin haben die Moraltheologen, die vom Nominalismus beeinflußt waren, das Verdienst, daß sie die konkreten sittl. Probleme ihrer Zeit eingehend studierten. Damals begann man die Fragen des Gesellschaftslebens in umfangreichen Traktaten "De iustitia" (Heinrich Heinbuche v. Langenstein, Heinrich Totting v. Oyta, Johannes Nider) zu behandeln.


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